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Die offenen Rechnungen der Kremlherren

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Die Frage nach dem zukünftigen Management der sowjetischen Außenstände beschäftigt die westliche Welt: Firmen sind beunruhigt, Banken besorgt, und die Regierungen müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, sie hätten abermals nicht rechtzeitig auf die Zeichen der Zeit reagiert.

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Die Frage nach dem zukünftigen Management der sowjetischen Außenstände beschäftigt die westliche Welt: Firmen sind beunruhigt, Banken besorgt, und die Regierungen müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, sie hätten abermals nicht rechtzeitig auf die Zeichen der Zeit reagiert.

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Die Vorwürfe sind nicht ganz berechtigt. Niemand konnte oder kann die Entwicklung einer Gesellschaft, die so offensichtlich in Bewegung geraten ist, prognostizieren. Das dynamische Ungleichgewicht bringt täglich neue Überraschungen und neue Gefahren, sodaß selbst die unmittelbare Zukunft völlig ungewiß ist'.

Bereits über das Ausmaß der sowjetischen Außenstände herrscht Unklarheit. Gegenwärtig werden Beträge in der Höhe zwischen 65 Milliarden US-Dollarund 70 Milliarden US-Dollar genannt. Über die Aufteilung dieser Außenstände haben die Nachfolgestaaten der UdSSR bereits am 28. Oktober 1991 grundsätzlich Übereinstimmung erzielt. Demnach entfallen auf Rußland zirka 45 Milliarden US-Dollar, die Ukraine 10,5 Milliarden US-Dollar, Weißrußland 2,6 Milliarden Dollar, und Kasachstan zirka 2,5 Milliarden US-Dollar. Die übrigen Republiken sind einzeln mit weniger als einer Milliar-

de US-Dollar belastet.

Das „Memorandum über die Auslandsschulden der UdSSR und ihrer Rechtsnachfolger" beruhigte zwar einige westliche Kreditgeber, konnte allerdings das Liquiditätsproblem des Schuldenmanagers, der Wnescheko-nombank, nicht lösen.

Für das Management der Bank wurde es im Herbst 1991 immer offensichtlicher, daß die Rückzahlungs-verpflichtungen die Einnahmen deutlich übersteigen werden, da die Unternehmen, nicht zuletzt unter dem Schutz einzelner Republiken, die zur Schuldenrückzahlung vorgesehenen Abgaben verzögerten oder verweigerten. Dem Vernehmen nach soll die Bank zur Aufrechterhaltung des Schuldendienstes auch auf die Deviseneinlagen der Unternehmen zurückgegriffen haben. Inwieweit auch Konten von Joint-Venture Unternehmen von den Devisenabzügen betroffen sind, läßt sich zur Zeit nicht eruieren. Am 4. Dezember 1991 stellte die Wneschekonombank schließlich die Tilgungszahlungen sowohl für die regierurjgsverbürgten als auch für die kommerziellen Kredite, die vor dem 1. Jänner 1991 gewährt wurden, ein.

Daß es sich beim Liquiditätspn> blem der Nachfolgestaaten auch um ein Managementproblem handelt, geht aus den Außenhandelsergebnissen hervor. Die Exporte in die westlichen Länder verringerten sich im ersten Halbjahr 1991 um rund 25 Prozent, die Importe wurden jedoch um 52

Prozent reduziert, woraus ein Handelsbilanzüberschuß von rund 1,4 Milliarden US-Dollar resultiert (gegenüber einem Abgang von 7,4 Milliarden US-Dollar 1990). Für das Gesamtjahr 1991 liegen zwar noch keine endgültigen Zahlen vor, den vorläufigen Ergebnissen nach rechnet man mit einem Überschuß der Handelsbilanz in der Höhe von 5,5 bis sechs Milliarden US-Dollar.

Massive Goldverkäufe

Setzt man den Abgang der Dienstleistungsbilanz mit 2,5 Milliarden US-Dollar an, so ergibt sich eine positive Leistungsbilanz von über drei Milliarden US-Dollar. Sie allein hätte zwar weder ausgereicht, um den Zinsendienst von zirka fünf Milliarden US-Dollar noch um den Schuldendienst (Zinsen plus Kapitalrückzahlungen zirka 11,5 Milliarden US-Dollar) nachzukommen, rechnet man jedoch die 1991 erfolgten Goldverkäufe hinzu (laut Planecon zirka vier Milliarden US-Dollar) und zieht man die Ende 1990 noch vorhandenen internationalen Reserven von 8,5 Milliarden US-Dollar in Betracht, so hätte in ruhigeren Zeiten wohl ein derartiger Liquiditätsengpaß vermie-

den werden können. Wesentlich hat der Zerfall der Union dazu beigetragen: sogar wenn die Republiken die notwendigen Devisen an den „autorisierten Schuldenmanager" hätte abführen wollen, so wäre nicht klar gewesen, auf welcher Grundlage dies hätte erfolgen sollen.

Da die Wneschekonombank in eine russische Bank „umgewandelt" wurde, fehlt nunmehr die Klarheit völlig, wer für das Schuldenmanagement zuständig sein wird - die Bank oder eine gemeinsam (?) neu zu gründende Institution. Allerdings verfugt nur die Wneschekonombank über ein gut ausgebautes Korrespondenznetz im Ausland. Die Bank unterhält zu rund 3.000 westlichen Kreditinstituten Kontakte, während die neuen Handelsbanken zu 30 bis maximal 50 Korrespondenzbanken ihre Geschäftsbeziehungen aufgebaut haben.

Während die Liquiditätsprobleme der Sowjetunion im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit stehen, sind die eigentlichen Probleme zu Randerscheinungen verkommen. Es scheint unfaßbar, daß die große Krise alle Bereiche des russischen öffentlichen Lebens umfaßt. Das daraus entstehende absurde gesellschaftliche

Klima läßt nicht nur die Gefahr des Bürgerkrieges zwischen den Republiken immer wahrscheinlicher werden, wobei ein weiterer Zerfall Rußlands in autonome Regionen in den Bereich des Möglichen rückt.

Die Frage nach der Regierbarkeit stellt sich in dieser Situation mit Nachdruck, beginnt sich doch das Barometer des politischen Denkens gefährlich dem Autoritarismus zuzuneigen. Wirtschaftliche Disziplin und ein wirksames Schuldenmanagement sind nicht zu erwarten, solange weder die gesellschaftlichen noch die rechtlichen Strukturen gebaut und gefestigt werden können. In diesem Zeitraum wächst die Versuchung einzelner, alles zu verkaufen was gegen Dollar verkäuflich ist. Mit steigender Not und zunehmender Anarchie kann das „Warenangebot" auch den Bereich der Atomarsenale einschließen. Zu Recht ist der Westen über diese Entwicklung besorgt.

Wäre es daher zur Begrenzung möglichen Schadens nicht naheliegend, zumindest die überzähligen Atomwaffen aufzukaufen und zu verschrotten? Das Schuldenproblem jedenfalls wäre auf diese Weise rasch zu lösen.

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