6660466-1960_03_07.jpg
Digital In Arbeit

Neues Tempo - altes Ziel

Werbung
Werbung
Werbung

Die letzte Tagung des Obersten Sowjets der Sowjetunion und die darauffolgenden zahlreichen Publikationen über die sowjetische Volkswirtschaft aus offiziellen Quellen geben vorhandene Gelegenheit, die Entwicklung der Sowjetwirtschaft näher zu beleuchten.

Grundsätzlich ist festzustellen, daß die Bevorzugung der Schwerindustrie vor der Konsumindustrie weiter zunimmt. Darüber gibt das Staatsbudget 1960 klare Auskunft. Die Gesamtinvestitionen 1960 belaufen sich auf 297,1 Milliarden Rubel. Für die Landwirtschaft, die beinahe noch die Hälfte der Sowjetbevölkerung beschäftigt, sind nur 50,6 Milliarden Rubel vorgesehen. Dieses industrielle Finanzierungsprogramm kommt aber nicht gleichmäßig der gesamten Industrie zugute. Während sich im Vergleich zum laufenden Jahr die Investitionen allgemein um elf Prozent erhöhen, sind für die chemische Industrie Erhöhungen des Investierungskapitals um mehr als 30 Prozent, im Maschinenbau um 30 Prozent, in der Hüttenindustrie um 20 Prozent und in der Erdöl- und Gasindustrie um etwas mehr als 15 Prozent vorgesehen. Im Gegensatz dazu ist die Erhöhung der Finanzierungssummen für die Leicht- und . Nahrungsmittelindustrie nur um 13,6 Prozent höher als 1959.

wjetstaates auf eine Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion konzentrieren. Es handelt sich dabei vor allem um Getreide, Fleisch und Milchprodukte. In keiner dieser Produktionssparten — eine Ausnahme macht nur die Milch — erreicht die sowjetische Produktion im nächsten Jahre pro Kopf der Bevölkerung annähernd den Produktionsstand der USA. Nur in Milch steht der Wettbewerb schon jetzt zugunsten der Sowjets. Der Plan sieht eine Milchproduktion von 72 Millionen Tonnen vor. Das ist pro Kopf der Bevölkerung 336 Kilogramm, während in den USA 1958 330 Kilogramm pro Kopf der Bevölkerung produziert wurden.

Das Staatsbudget der Sowjetunion für 1960 spiegelt die sowjetischen Wirtschaftsziele wider. Die Einnahmen mit 773 Milliarden Rubel sind etwa um 49 Milliarden höher als im Vorjahre. Dieser Zuwachs geht ganz auf ein Wachstum der Gewinne der verstaatlichten Wirtschaft. Die direkten Steuern verlieren damit für den Staatshaushalt immer mehr an Bedeutung. 1959 machten sie noch 7,8 Prozent aus, für 1960 werden es nur 7,4 Prozent sein. Es ist naheliegend, daß die Sowjetregierung plant, die Einkommensteuer überhaupt abzuschaffen, natürlich an Stelle einer der planmäßigen Lohnerhöhungen. Man hat schon jetzt damit begonnen, die Einkommensteuer abzubauen und das steuerfreie Einkommen hinaufzusetzen. Natürlich ist das Demagogie, denn die indirekten Steuern auf den Verbrauchsgütern bleiben bestehen, und überdies ist der Staat der monopolistische Unternehmer, der dem Konsumenten gegenüber seinen Gewinn beliebig berechnen kann. Der psychologische Effekt der Abschaffung aller direkten Steuern darf aber nicht unterschätzt werden.

In die Staatseinnahmen fließen aus der verstaatlichten Wirtschaft im Jahre 1960 ungefähr 702,5 Milliarden Rubel. Ein wesentlicher Teil dieser Summe fließt als Investition wieder in die Industrie zurück. Für die Industrie stehen im Jahre 1960, wie schon erwähnt, insgesamt 297,1 Milliarden Rubel zur Verfügung, wobei ,151,8 Milliarden Rubel direkt budgetär sind. Insgesamt werden 328,5 Milliarden Rubel der Volkswirtschaft zugeführt, hier der überwiegende Teil der Industrie und dem Bauwesen und innerhalb der Industrie wieder der Schwerindustrie. Die Landwirtschaft erhält dagegen aus dem Staatshaushalt 32,3 Milliarden Rubel. Gleich nach der Wirtschaft rangieren die Sozial- und Kulturressorts mit 247,8 Milliarden Rubel im Budget, nicht ganz 16 Milliarden mehr als 1959. Man darf dabei wiederum nicht vergessen, daß nicht nur der gesamte Unterricht in der riesigen Sowjetunon unentgeltlich erteilt wird, sondern daß auch beinahe alle Fach- und Hochschüler Stipendien erhalten. Das Gesundheitswesen und der Sport beanspruchen 47,5 Milliarden Rubel, die soziale Versicherung und die Altersrenten 98 Milliarden Rubel, Krankengelder 12,4 Milliarden Rubel. Für die werdenden Mütter und als Beihilfen an kinderreiche Familien sind 10 Milliarden Rubel vorgesehen, was allerdings bei mehr als 200 Millionen Bürgern keine allzu imposante Summe ist.

Das eigentliche Militärbudget beträgt für 1960 genau dieselbe Summe wie für 1959. Die sowjetische Propaganda hält sich allerdings seht viel darauf zugute, daß dank der Steigerung dei Gesamtsumme des Budgets der prozentuelle Anteil der Kriegsausgaben natürlich fällt. 1955 betrugen diese Militärausgaben noch 19,9 Prozent der Staatsausgaben, 1960 werden sie aul 12,9 Prozent herabsinken. Diese Zahlen täuschen aber. Der wesentliche Teil dieses Staatsbudgets wird ja in anderen Ländern durch di Privatwirtschaft erledigt. Vom eigentlicher Staatsbudget bilden daher die Kriegsausgaber weit mehr als die genannten 12,9 Prozent.Wirtschaftsplan wie Staatshaushalt zeigen somit zweierlei: einmal, daß die Sowjetunior konsequent ihren wirtschaftspolitischen Zieler einer steigenden Entwicklung der Volkswirtschaft in marxistischen Bahnen nachgeht, un< dann, daß sich die sowjetische Wirtschaft in dei gegenwärtigen Periode relativ günstig ent wickelt. Nach amerikanischen Aeußerungen is man dort besorgt über die Tatsache, daß dii Zuwachsrate der sowjetischen Volkswirtschaf ungefähr doppelt so hoch ist wie in den USA Man darf allerdings nicht vergessen, daß aucl ein nichtkommunistisches Rußland früher ode: später begonnen hätte, die Rückständigkeit ii der Lebenshaltung seiner Völker aufzuholen.

Im Auslande ist die Meinung verbreitet, daß diese Bevorzugung der Schwerindustrie allein auf militärische Erwägungen zurückzuführen sei. Solche Ueberlegurigen mögen wohl mitspielen, sind jedoch nicht allein maßgebend für den forcierten Ausbau der Schwerindustrie. Das gilt auch für die außenpolitischen Ueberlegungen. In immer stärkerem Maße liefert die Sowjetunion nicht nur an die übrigen kommunistischen Länder, sondern hat bereits den Wettbewerb mit dem Westen in den unterentwickelten Staaten aufgenommen. Ob es sich nun um die Satelliten handelt, um China, Indien oder Burma, ganz zu schweigen von den jungen Staaten in Afrika — sie alle verlangen von der Sowjetunion nicht die Lieferung von Konsumwaren, sondern von ganzen industriellen Anlagen„ also von Erzeugnissen der “Schwerindustrie,

Das wichtigste, Argument, für. die Forcierung der Schwerindustrie aber ist, daß die sowjetische Schwerindustrie trotz dem stürmischen Ausbau in den vergangenen dreißig Jahren für die künftige Entwicklung des gewaltigen Landes eigentlich noch immer viel zu schwach ist. Die Sowjetunion hat seit 1928 planmäßig eine autarke Volkswirtschaft aufgebaut. Notgedrungen könnte die Sowjetunion schon heute, wenn auch unbequem, ohne jeden Außenhandel auskommen. Die Tendenz ieder sowjetischen Wirtschaftspolitik ist, auf keinen Fall wieder in ein Abhängigkeitsverhältnis vom Ausland zu gelangen. Würde heute die Entwicklung der Konsumgüterindustrie auf Kosten der Schwerindustrie forciert werden, so wäre der Tag abzusehen, da die Herstellung von Produktionsmitteln der Entwicklung nicht nachkäme, die volkswirtschaftliche Entwicklung wieder ins Stocken gerate und man schließlich zur Forcierung der Schwerindustrie zurückkehren müßte. Eben die noch relative Schwäche der schwerindustriellen Basis und der Rohstoffproduktion ist es, was die sowjetischen Bäume nicht in den Himmel wachsen läßt.

Uebrigens wird die Herstellung von Produktionsmittel um 12 Prozent, diejenige von Konsumwaren um 10,5 Prozent zunehmen. Ist schon die Verteilung der Investitionen einseitig zugunsten der Schwerindustrie vorgenommen worden, so ist selbst die Zusatzrate der Konsumwaren geringer als die der Schwerindustrie. Der Stahlausstoß soll 1960 beinahe 65 Millionen Tonnen erreichen, die Eisenerzförderung rund 105 Millionen Tonnen und die Erdölförderung 144 Millionen Tonnen. Das schafft jedoch noch keine fühlbare Erleichterung in der sowjetischen Mangelwirtschaft. Man muß sich nämlich, nur um ein Beispiel zu nennen, vor Augen haltend daß die Sowjets das Ernährungsproblem nur meistern können, wenn die Landwirtschaft weiter mechanisiert wird, Neuland erschlossen wird. Das alles erfordert aber zusätzlichen Verbrauch von Erdöl. Ganz zu schweigen von der chemischen Industrie, die gerade im Jahre 1960 forciert ausgebaut werden soll. Es ist daher verständlich, daß am schnellsten die Entwicklung des Elektrizitätswesens angestrebt wird. 1960 sollen 291 Milliarden Kilowattstunden Strom er-zeugt werden — 11,2 Prozent mehr als 1959.

Da es so aussieht, daß die erstrebte Erhöhung des Lebensstandards durch Industrieprodukte immer noch relativ langsam vor sich geht, ist es verständlich, daß sich die Energien des So-

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung