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Die Reaktivierung des AristidesNVotruka

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Mein Freund Aristides Wotruba war Konduktführer beim städtischen Leichenbestattungsunternehmen unserer Stadt. Seit einem halben Jahr ist er wegen Erreichung der Altersgrenze im Ruhestand. Dabei ist er noch so rüstig. Er ist das Opfer veralterter Gesetze und Vorstellungen. Unsere Väter traten mit den Fünfzigern in das Greisenalter ein. Alt sein war kein Unglück. Es bedeutete jedenfalls Würde. Aber heute, wann ist einer überhaupt alt? Wenn einer mit 65 Jahren in den Ruhestand versetzt wird, so wird ihm suggeriert, daß er alt ist, minder brauchbar, unbrauchbar. Dieser Widerspruch zwischen Sein und Schein kann zu schweren psychischen Störungen und schließlich zur tatsächlichen Senilität führen.

Was war Aristides für eine herrliche Erscheinung, bis von heute auf morgen das Unglück der Versetzung in den Ruhestand über ihn hereinbrach. Wer sein ganzes Berufsleben lang ernst, gemessenen Schrittes einhergeht, nie den schwarzen Rock auszieht, immer in Trauermienen blickt, dem wird schließlich das äußere Gehaben zum inneren Erleben, denn Kleider machen nicht nur Leute, sondern auch Menschen.

Wie oft habe ich seine Geste bewundert vor dem offenen Grabe, eine schlichte Handbewegung: „Bitte, zurücktreten, machen Sie den Platz frei für die Trauernden.“ Und alle wichen zurück. Dann ein leichtes Heben des Hauptes hin zur Musik, die auf seinen Wink schon gewartet hatte.

Aristides hatte eine Rolle gespielt in unserer Stadt — gewiß nicht bewußt, der bescheidene Mann —, wenn er so einher-schritt vor Trauer, Konvention und Neugierde, in Ausübung jenes Berufes, der immer feierlich ist, immer erhaben, immer Würde.

Mit einem Schlage war alles aus. Aristides tat sein Möglichstes. Es war sonderbar zu sehen, wie das äußere Zubehör seines Berufes allmählich von ihm abfiel, zuerst der schwarze Rock, zuletzt das gemessene Schreiten. Ich weiß, wie er sich eines nach dem anderen abrang.

Als ich einmal mit unserem Bürgermeister im Autobus über Land fuhr, brachte ich das Gespräch auf Aristides' Reaktivierung. Er winkte gleich ab: „Es handelt sich um das Prinzip. Die Jugend drängt nach.“

„Aristides“, sagte ich einmal, als wir am Rathauskeller vorbeikamen, „trinken wir ein Glas Wein mitsammen, damit du auf andere Gedanken kommst.“ Aber beim Wein wurde Aristides nur noch in sich gekehrter und nachdenklicher. „Wenn ich jünger wäre“, sagte er, „aber nun ist es zu spät.“

Eine düster blickende Menge hatte sich vor dem Rathaus versammelt. Ich konnte von den Demonstranten nicht recht erfahren, was los war. Einer von ihnen glaubte, es sei wegen der Erhöhung des Wasserzinses. Aristides machte seine unnachahmbare Handbewegung: Bitte, zurücktreten. Niemand beachtete ihn.

Jeder in unserer Stadt kennt das Ende. Vor einiger Zeit zog Aristides wieder seinen Rock an und benahm sich auch sonst eigentümlich. In der vergangenen Woche habe ich ihn in der Heilanstalt besucht. Wir redeten mitsammen wie in alten Zeiten und ich konnte kaum eine Veränderung an ihm bemerken. Nur beim Abschied sagte er: „Was sagst du zu meiner Reaktivierung? Ich habe nie gezweifelt, daß sie mich eines Tages holen werden.“

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