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Über den christlichen Schnupfen

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Der Schnupfen bringt es an den Tag. Oder noch sprichwörtlicher formuliert: Sage mir, wie du Schnupfen hast, und ich sage dir, wer du bist! Schnupfen - oder wie sich der Mensch verändern kann.

Die Nase rinnt und rinnt - wo nur die viele Flüssigkeit herkommt? Die Augen sind gerötet und verschwollen, die Ohren verstopft, der Hals brennt wie Feuer; dazu ein scheußlicher Beizhusten. Man ist schon ganz erschöpft vom Niesen. Wer hätte gedacht, daß einem vor einem selber grausen kann.

Was tun gegen diese heimtückische Krankheit, die angeblich mit Behandlung 14 Tage und ohne Behandlung zwei Wochen dauert? ■ Fromme Leute schauen in die Bibel, aber da steht leider nichts. Über den Schnupfen schweigt die Bibel. Das müssen glückliche Menschen gewesen sein, diese Propheten und Apostel, diese Prophetinnen und Apostelinnen: ein Leben ohne Schnupfen.

Viele österreichische Männer sind schwerkrank, wenn sie Schnupfen haben. Bewegungslos liegen sie auf ihrem Bett, wenn sie nicht gerade der Frost schüttelt. Nur leise und behutsam darf man das Zimmer der Hinfälligen betreten - ergebenst ihnen frische Papiertaschentücher reichen. Blöde Bemerkungen über die Gefährlichkeit ihrer Erkrankung läßt sie in Klagelieder ausbrechen: formulieren sie doch in ihrer Phantasie bereits ihr neues Testament.

Doch nicht so die pflichtbewußten österreichischen Menschen. Die hält kein Schnupfen in der Wohnung zurück. Dieser Charakter kapituliert nicht vor patschertem Niesen. Und ihr Schnupfen ist keineswegs ihr Privateigentum - den soll jeder haben.

Und so wird fröhlich angesteckt. Kein verschnupfter Erfolgsmensch ohne eine Garde von unzähligen Bazillen. Und erst die fleißigen Mütter: Du gehst mir auf jeden Fall in die Schule oder willst du die Schularbeit versäumen? Und darum, liebe verschnupfte Landsleute, „gebts a Ruah und kurierts euch aus!” Man versäumt nämlich gar nichts.

Ein Loblied auf den Schnupfen: sich endlich ausschlafen, gut essen, ein Buch lesen - einen Schnupfen muß man genießen und sich ver: trauensvoll genüßlich ausmalen, wie erstaunlich ersetzbar man eigentlich ist.

Es lebe der Schnupfen - denn von Zeit zu Zeit muß die Seele den Vorhang zuziehen, damit unsereins zu sich kommen kann. Eigentlich recht christlich, dieser Schnupfen.

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