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Krankheit des Monats

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Haaatschschiii! Der Long- und Bestseller unter den Zivilisationskrankheiten hat wieder Saison. Kein Mensch erklärt den Schnupfen zur Krankheit des Monats, er ist es einfach, er behauptet seinen Platz auf den ungeschriebenen Popularlisten der Befindlichkeitsstörungen seit Jahren, er steht dabei an der Spitze, Haaatschschiiih!

Der Schnupfen ist dabei gar keine echte Krankheit, der Schnupfen ist ein Zustand, eine Art umgekehrte Psychosomatik, das heißt der Körper beeinträchtigt die Seele. Der Verschnupfte ist auch psychisch krank, sein Sensorium ist nicht belastbar, sein Frust ist entzündlich wie seine Nase, sein Weltschmerz steigert sich bis zur Untergangs-Sehnsucht, er fühlt sich eigentlich schon wie tot, beziehungsweise er ist für seine Mitmenschen gestorben, doch er geht noch unter ihnen umher wie ein lebendig Toter. Wer ihn grüßt, dem antwortet er mit Hatschi. Dabei verbreitet er jene gefürchtete Tröpfchen-Infektion, die sein Leiden weiterverbreitet. Daher wird er von den gesunden Geistern, die in einem gesunden Körper wohnen und auf Widerstand und Vorsicht eingestellt sind, demonstrativ gemieden.

Obwohl nicht zur Kommunikation aufgelegt, registriert der Bakterienbeziehungsweise Virenträger dieses ihn ausgrenzende Verhalten mit gesteigertem Frust. Da er über keinen privaten Helikopter als Transportmittel zu der ihn ohnehin überanstrengenden Arbeit verfügt, da er sein Auto nicht benützen kann, weil sein fortwährendes Niesen die Windschutzscheibe an der Innenseite beschlägt, wo sich keine Wischer befinden, muß der Verschnupfte die öffentlichen Verkehrsmittel frequentieren. Dort trifft er in der Regel einige Leidensgenossen. Sie begrüßen einander mit heftigen Hatschis. Hielte man in diesem Augenblick ein Mikroskop in den Raum, so könnte man die Anreicherung der gedrängten Atmosphäre mit Erregern feststellen, die sich alsbald neue Wirte und Nasen suchen. So wird der individuelle Schnupfen zum Massenphänomen mit allen Nachteilen für die Gesellschaft.

Die Reaktion auf verschnupfte Mitbürger hat einen weltanschaulichen Aspekt, der von den kirchlichen Statistik-Instituten noch nicht ausreichend erforscht ist. Die mehrheitlich religiösen Österreicher sagen nämlich „Helf Gott!”, wenn der Nachbar niest. Auch wenn sie bei diesem frommen Wunsch möglicherweise gar nicht die göttliche Hilfe für den Niesenden meinen, sondern sich wünschen, der Allmächtige möge ihnen selbst helfen und sie vor Ansteckung bewahren.

Wie dem auch sei und zu erforschen wäre, das „Helf Gott!” ist leider ähnlich im Schwinden wie das „Grüß Gott!”. Der aufgeklärte Zeitgenosse ruft „Zum Wohl!”, als gälte es, ein Glas zu leeren, vielleicht ist der Viren-Cocktail damit gemeint. Die noch sachlicher Aufgeklärten meinen trocken und bestimmt „Gesundheit!”, ein Gegenstück zu unserem so überaus logischen Tischgebet „Mahlzeit!”

Irgendwie klingt „Hatschi!” in diesem Wunschkonzert geradezu anheimelnd neutral. Hilfreiche Erwachsene reichen kindlichen Schnupfern manchmal wortlos ein Papier-Taschentuch - und in dieser

Geste liegt ein Hauch von Mitmenschlichkeit, der die Kommunikation der Viren veredelt.

Rezepte und häusliche und pharmazeutische Mittel gegen Schnupfen gibt es zur Genüge. Einerseits helfen sie alle miteinander nicht, sonst könnte sich der Schnupfen nicht alljährlich zur Krankheit des Monats ausweiten. Die harten Kritiker, die unter wiederholtem Hatschi die Krankheitsbilder am Stammtisch analysieren, führen regelmäßig die Schuld der NASA und anderer Weltraumoberen und eventuell auch der Computerindustrie ins Feld. Alle diese Fortschritte nämlich hätten durch ihren Aufwand verhindert, daß die Medizin ein wirklich probates Schnupfenmittel entdecken und entwickeln konnte.

Andererseits muß man aber auch zugeben, daß trotz NASA und Windows die Kräuter-Inhalation, die heißen Wickel, die natürlichen und künstlichen Vitamin-Schocks und die ätherischen Öle nicht ganz ohne Wirkung bleiben. Denn irgendwann hat auch jeder Schnupfen wieder sein Ende. Todgeweihte, Tränenumflorte, Nasenverschlossene niesen eines unverhofften Tages ihr letztes Hatschi und kehren ins Reich der Lebenden, Sozialproduktschaffenden, Lachen-* den und Liebenden zurück. Lockern wir die mentale Quarantäne und nehmen wir sie freudig auf.

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