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Chor-Transparenz

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Ich frage Sie: Was sah das breite Publikum bisher in Chorkonzerten vom Dirigenten? Den Chor. Ja, dem konnte man ins Gesicht sehen. Der Chorleiter aber? Er huschte aufgeregt herein, aber kaum hatte er seinen Standplatz erreicht, beugte er den Körper -und drehte sich um.

Dann sah das breite Publikum nur mehr den mehr oder weniger breiten Rücken unter schwarzem Tuch. Die Mittelpartie und das, was daran anschloß, bedeckten Frackschöße. Die im Takt wippenden Beine wurden von Hosenröhren umschlottert, nicht selten zu kurz und selten zu lang.

Ja, und was sah man noch? Rudernde Arme, Hände, die so etwas wie isometrische Übungen vollführten, und als Krönung des ganzen - einen Blondschopf, eine Schwarzlocke, einen blankpolierten Charakterkopf.

Was immer man aber auch sah, man sah es von hinten. Und eines sah das breite Publikum überhaupt nicht: das Gesicht des Chorleiters nebst dessen elementaren und instrumentalen Bestandteilen.

So war dies, vom Beginn des Chorgesanges an - also wahrscheinlich kurz nach der Vertreibung aus dem Paradies - bis, ja bis zu dem Tage, an dem das Fernsehen den Chorgesang entdeckte.

Das Fernsehen hat es bekanntlich nicht so einfach wie das Publikum. Dieses hat ein Recht auf Vergnügen, jenes aber hat einen Büdungsauftrag. Demzufolge kann ein Fernsehregisseur nicht einfach ein Konzert übertragen; vielmehr muß er ein solches Konzert „transparent“ machen.

Daher verteilt der Fernsehregisseur jede Menge Kameras im Saal, auf und auch hinter der Bühne. Eine davon richtet er dem Chorleiter mitten ins Gesicht. Und weil er das so interessant findet, sieht man bei Chorkonzerten im Fernsehen meistens dieses.

Und was sieht man da? Das Stechen der Augen, das Wölben der Brauen, das Runzeln der Stirn, das Blähen der Nasenflügel und -vor allem — das Spitzen der Lippen, das Offnen des Mundes, das bindung zu gespeicherten Details .

Schließen desselben, das Stoßen der Zunge.

Nun weiß jeder Chorpraktiker, daß all das, was da im Chorleitergesicht in Bewegung ist, nichts anderes bewirkt als die Fortsetzung des manuellen Dirigierens mit mimischen Mitteln.

So hebt bekanntlich ein ruckartig vorgerecktes Kinn die Intonation des zweiten Alts spielend um ein bis eineinhalb Ganztöne. Das mähliche Schließen des linken Auges vermindert die Lautstärke der stets zum Brüllen neigenden Bässe um an die 20 Dezibel. Ein rechtzeitiges Hochziehen der linken Augenbraue hat schon manchen Sopran vor einem vorzeitigen Soloeinsatz bewahrt.

Was aber sagt sich das Fernsehpublikum, wenn es das Chorleitergesicht in Bewegung sieht? Es vergleicht die Gesichtsbewegungen des Dirigenten mit denen der ihm wehrlos gegenüberstehenden Sänger und sagt: „Jö!“ Oder auch: „Da schau her, der singt ja auch!1'

Wenngleich: Hören kann man den Chorleitergesang ja nicht, aber immerhin sehen. Und so stellt sich alsbald und allenthalben die Frage: „Ja, darf denn ein Chorleiter auch singen?“

Wo aber einmal die Frage des „Dürfens“ gestellt ist, da ist auch die politische Frage des „Könnens“ nicht mehr weit.

Womit eindeutig und schlüssig bewiesen wäre, daß die Frage „Muß ein Chorleiter singen können?“ nicht bloß eine elitär chorakademische, sondern eine Frage von allgemeinem Interesse ist. Wer will sie beantworten?

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