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Das Gerüst und das Haus

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Wieviel Mühe verwende ich nicht darauf, die Gerüste meines Hauses aufrecht zu erhalten. Meines Hauses? Ich habe kein Haus. Das Possessivpronomen rechtfertigt sich allenfalls durch die Tatsache, daß ich in diesem Haus wohne, man könnte auch sagen: geduldet bin. Wem das Haus gehört, weiß ichnicht Warum die Gerüste an dem Haus stehen, weiß ich auch nicht. Ich fühle mich aber verpflichtet, die Gerü-

ste aufrecht zu erhalten. Manchmal komme ich mir dabei vor, als beherrsche mich ein Aberglaube: daß das Haus Zusammenstürze^ würde, wenn ich die Gerüste nicht aufrecht erhielte.

Auf allen vier Seiten hat das Haus Gerüste. Das war nicht immer so. Ich kann mich noch daran erinnern, daß das Haus früher überhaupt nicht eingerüstet war. Das ist viele Jahre her. Dann kamen eines Tages mehrere Männer in blauen Arbeitsanzü- ?en mit Hosenträgern und stellten an der einen Seite des Hauses ein Gerüst auf.

Ich selber, behaupteten die Männer, hätte «las Gerüst bestellt Sie kassierten auch bei mir. Einer der Männer, der letzte, der sich nach dem Aufstellen des Gerüstes entfernte, der kleinste von ihnen, sagte mir leise (vielleicht sollten es die anderen nicht hören): Möglicherweise hätte ich zwar «las Gerüst nicht bestellt, aber nichts unternommen, um «las Gerüst wieder abzubestellen. Er sagte es so, als solle das ein Trost sein.

Im Laufe der Zeit kamen die Gerüste für die restlichen drei Seiten. Die Männer, die die Gerüste aufstellten, wechselten. Beim Aufstellen des vierten Gerüstes half wieder der Kleine vom ersten MaL Er sagte diesmal nichts. Er wirkte viel älter, aber ich erkannte ihn doch.

Das Gerüst besteht aus eisernen Trägem, Brettern und Balken. Zu- sammengehalten wird es durch

Metallschellen. Das Holz ist verwittert, das Metall verrostet. Man kann nicht mehr gefahrlos über die Brettergehen. Ich muß bei jedem Schritt prüfen, ob das nächste Brett noch trägt Einzelne Schellen sind schon soweit verrostet, daß die Schrauben herausgefallen sind. Ich verbinde die betreffenden Stellen mit Strik- ken, so gut ich kann. Wenn ein Brett oder einBalken soweit durchgefault ist, daß er hinunterbricht, dann suche ich an irgendeiner anderen Stelle der Gerüste ein Brett oder einen Balken, der noch gut ist und dort entbehrlich, und setze ihn anstelle des verfaulten ein. Das ist schwierig und wird, wie man sich denken kann, immer schwieriger.

Es ist kalt Es gibt keinen Sommer mehr. Der letzte Sommer, der auch schon kühl und verregnet war, liegt viele Jahre zurück. Jetzt zieht sich der Winter bis in den Mai hinein hin, dann kommt ein Frühling, der keine Hoffnung mehr bringt und schon im Juli in einen nebligen Herbst übergeht

Ende August beginnt der nächste Winter. Die Kälte konserviert die Bretter und Balken etwas, das heißt: in der Kalte verlangsamt sich der Fäulnisprozeß, aber die Verrostung der Metallteile wird durch die Kälte beschleunigt

Oft ist es so kalt, daß man die Gestänge nicht anfassen kann. Die Bretter und Balken sind vereist Zweimal bin ich schon abgestürzt Ich wundere mich, daß ich die Stürze überlebt habe. Ich würde gern in dem Haus wohnen, aber ich muß ja die Gerüste aufrecht erhalten. Heimlichsteige ich ab und zu in das Haus ein, durch ein Fenster. Ich kann nicht lang bleiben, es muß sich jemand um das Gerüst kümmern.

Mit «len Jahren ist mir «las Innere des Hauses fremd geworden. Ich finde mich drinnen nicht zurecht Ich beneide alle, die in Häusern ohne Gerüste wohnen.

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