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Der Metaphysiker wider Willen

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Wessen berühmtester Satz lautet: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.", der fordert förmlich dazu heraus, sich das Maul über ihn zu zerreißen. Wer seine Zeit im wesentlichen mit Denken und Leiden verbringt, der wird von all jenen, denen sowohl die Fähigkeit zu denken als auch jene zu leiden abgeht, also von der überwältigenden Mehrheit, zur wundertätigen Heiligenfigur verunstaltet, die einen, betet man sie nur demütig genug an, endgültig von den lästigen Verpflichtungen des Denkens und des Leidens entbindet. Wer sein Leben lang in masochisti-scher Selbstknechtung nach größtmöglicher Reinheit strebt, dessen Nachwelt wird in sadistischer Lust nach dem kleinsten Schmutzfleck suchen.

Ray Monk zerreißt sich in seiner Wittgenstein-Biographie weder geschwätzig das Maul, noch ist es seine Intention, in den bisher wenig beleuchteten Winkeln des Philosophenlebens nach Schweinereien zu stochern. Er legt vielmehr ein Buch vor, welches es sich auf der Basis einer bemerkenswert umfassenden und exakten Recherche, das heißt, in tatsächlicher Kenntnis der Fakten, leisten kann, unspekulativ und schon gar nicht denunziatorisch Stellung zu beziehen, - in bedeutungsschweren Worten: Ray Monk weiß, wovon er spricht. Besonders in jenen Abschnitten des Buches, die sich mit Wittgensteins homoerotischen Beziehungen zu David Pinsent, Francis Skin-ner und Ben Richards auseinandersetzen, findet Monk einen Ton, der weder voyeuristisch-verurteilend noch apologetisch ist, auch nicht kompensatorisch in unpersönlicher Distanz erfriert, der vielmehr von einer verständnisvoll-unspektakulären und gerade deswegen gelungenen Beziehung des Autors zum berühmten Objekt seiner Beschreibung zeugt.

Neben ihrer Genauigkeit und ihrer zugewandten Sachlichkeit erscheint diese Biographie in zweierlei Hinsicht verdienstvoll: Einerseits versteht sie es, die wechselseitigen Einflüsse zwischen Wittgensteins jewfeils aktu-ellerLebenssituation und seinem Denken darzustellen. Andererseits - und noch weitaus wichtiger - gelingt es ihr, Wittgensteins Rolle als Metaphy-siker ansatzweise zu enthüllen, - freilich als Metaphysiker des Unausgesprochenen, als Metaphysiker ohne Worte, vielleicht sogar als Metaphysiker wider Willen.

In der Betrachtung von Wittgensteins unerbittlichem Ringen nach dem reinen Gedanken und dem reinen Leben wird allerdings offenbar, daß diese Biographie auch Wesentliches unberührt läßt, im speziellen sich an die Frage nach der Genese von Wittgensteins Charakterzügen nicht heranwagt. - „Wer ein Kind mit Verständnis schreien hört, der wird wissen, daß andere seelische Kräfte, furchtbare, darin schlummern, als man gewöhnlich annimmt. Tiefe Wut und Schmerz und Zerstörungssucht." -Dies schreibt Ludwig Wittgenstein 1929 in seinen „Vermischten Bemerkungen". - In welcher Weise werden seelische Kräfte in einem Knaben zum Schlummern gebracht, in dessen Familie sich drei von fünf Söhnen

umbringen? In welcher Weise wird in einer derartigen Konstellation der Überlebende nicht zwangsläufig zum Schuldigen, der sich im späteren Leben ständig säubern muß von Schuld auf der einen, von tiefer Wut und Schmerz und Zerstörungssucht auf der anderen Seite? - Alles in allem auch ein tröstlicher Gedanke: Es gibt noch viel Biographisches über Ludwig Wittgenstein zu schreiben. Das bisher beste liegt vor: Ray Monk vor den Vorhang.

WITTGENSTEIN. DAS HANDWERK DES GENIES. Von Ray Monk. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1992. 673 Seiten, öS 608,-.

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