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Der Sozialismus als Sackgasse der Evolution

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Die Sozialisten haben die von Josef Taus eingeleitete Grundsatzdiskussion mit ihrer Programmdiskussion gleichsam unterlaufen und die Veröffentlichte Meinung durch spektakuläre Veranstaltungen mit in-und ausländischen Kapazitäten nun schon seit zwei Jahren mit ihren Grundsatzüberlegungen befaßt. Sie haben damit neben dem Haupteffekt der Verbreitung ihrer Ideen auch den ihnen gewiß unerwünschten Nebeneffekt erzielt, daß die Öffentlichkeit, je länger die sozialistische Programmdiskussion dauert, umso klarer erkennt, daß der österreichische Sozialismus über den marxschen Denkansatz nicht hinausgekommen ist und zu den tatsächlich bedrückenden Problemen unserer Zeit keine Aussage zu machen vermag. Hier zeigt sich das Salzburger Programm deröVP und die dahinterstehende politische Philosophie als wesentlich moderner und fortschrittlicher. Den Nachweis hiefür liefert H. Christof Günzl mit der Broschüre „Zwölf Essays zur politischen Philosophie des Salzburger Programms der österreichischen Volkspartei“. Der folgende Aufsatz des Autors bringt einige Gedanken aus dieser Schrift.

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Die Sozialisten haben die von Josef Taus eingeleitete Grundsatzdiskussion mit ihrer Programmdiskussion gleichsam unterlaufen und die Veröffentlichte Meinung durch spektakuläre Veranstaltungen mit in-und ausländischen Kapazitäten nun schon seit zwei Jahren mit ihren Grundsatzüberlegungen befaßt. Sie haben damit neben dem Haupteffekt der Verbreitung ihrer Ideen auch den ihnen gewiß unerwünschten Nebeneffekt erzielt, daß die Öffentlichkeit, je länger die sozialistische Programmdiskussion dauert, umso klarer erkennt, daß der österreichische Sozialismus über den marxschen Denkansatz nicht hinausgekommen ist und zu den tatsächlich bedrückenden Problemen unserer Zeit keine Aussage zu machen vermag. Hier zeigt sich das Salzburger Programm deröVP und die dahinterstehende politische Philosophie als wesentlich moderner und fortschrittlicher. Den Nachweis hiefür liefert H. Christof Günzl mit der Broschüre „Zwölf Essays zur politischen Philosophie des Salzburger Programms der österreichischen Volkspartei“. Der folgende Aufsatz des Autors bringt einige Gedanken aus dieser Schrift.

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Die Menschen weit ist, wie man heute oft zu hören bekommt, „komplex“ geworden. • Weitreichende und kompliziert verflochtene Zusammenhänge, Wechselbeziehungen, Zwänge, Abhängigkeiten und ähnliche Kausalitäten, wie sie in der Vergangenheit nicht gegeben waren, sind entstanden. Mit den herkömmlichen Denkweisen kann man diese komplexe Wirklichkeit nicht mehr durchschauen und meistern. Es setzen sich daher mehr und mehr System theoretische Denkmodelle durch. Nun ist ein

System eine Zusammenfassung einer Vielzahl von Einzelobjekten oder Einzelprozessen zu einem Ganzen. Unter „Zusammenfassung“ in diesem Kontext ist ein Geflecht von kausalen Wechselbeziehungen zwischen den Elementen des Systems zu verstehen. Dieses Geflecht nennen wir die „Struktur“. Struktur tritt in unzähligen und verschiedenen Erscheinungsformen auf. Selbstverständlich hat auch jede Gesellschaft „Struktur“. Die Art der Struktur charakterisiert die Gesellschaftsformation und bestimmt damit auch weitgehend die Schicksale der Menschen.

Die Erforschung der Struktur-Gesetze, insbesondere auch der Gesetze, nach denen sich Struktur umbilden, sowie die Anwendung dieser Gesetze auf die Gesellschaftspolitik, ist daher eine der wichtigsten Aufgaben der Ideologen und politischen Programmatiker geworden.

Für Wandlungsprozesse an Strukturen gibt es nun zwei grundverschiedene Muster: Einerseits Zunahme an Entropie, andererseits die Zunahme an negativer Entropie, die auch als „Information“ bezeichnet wird und den Grad der Komplexität eines Systems angibt. Dazu sagt Norbert Wiener, der Begründer der Kybernetik: „... daß, wenn wir einen Zustand von anderer als maximaler Entropie annehmen und beobachten, was sich ereignet, die Entropie fast immer zunimmt“. An anderer Stelle heißt es: „Die Entwicklung in der Paläontologie deutet auf eine bestimmte langzeitige Tendenz - obwohl sie unterbrochen und kompliziert sein kann - vom Einfachen zum Komplexen“. (Norbert Wiener, Kybernetik, Düsseldorf-Wien, 1963)

Wir sehen also die beiden Muster, nach welchen sich Strukturen umbilden: Bei dem einen Muster nimmt die Entropie zu, das heißt, das System verliert an innerer Differenzierung und Spannung, verliert Lebendigkeit, und erstarrt. Bei dem anderen Muster nimmt die negative Entropie, also die „Informa-“ tion“ zu, das heißt, das System wird komplexer, dynamischer, lebendiger. Das erstgenannte Muster entspricht etwa den Wandlungsvorgängen im Bereich der toten Materie, das zweitgenannte Muster, also

die Zunahme an „Information“, den Entwicklungen im Bereiche des Organischen.

Die Anwendung dieser Gesetze auf die Struktur der Gesellschaft und deren Umbildung führt nun zu bemerkenswerten Einsichten: Auch gesellschaftliche Strukturen können an Entropie zunehmen, können sich also nach Gesetzen weiterentwickeln, die der Evolution der toten Materie und nicht der der organischen Substanz entsprechen. Zunahme an „sozialer Entropie“ bedeutet, daß eine Gesellschaft an innerer Differenzierung und Buntheit, an Leistungsanreizen, an Leistungsfähigkeit und Anpas-

sungsfähigkeit verliert. Gesellschaften dieser Art büßen auch die Selbstregulierungsfähigkeit ein, sie werden unregierbar, die Inflation entgleitet der Kontrolle und der Wohlfahrtsstaat kann plötzlich nicht jnehr finanziert werden.

Wenn wir nach den Gründen für diese Entwicklung fragen, so finden wir einen der Hauptgründe in dem Gleichheitsdogma, in der Annahme, daß die Menschen nicht nur in ihrem personalen Wert und in ihrer Würde, sondern auch in ihren Anlagen gleich seien und daß soziale Gerechtigkeit daher nur dann gewährleistet sei, wenn die Gesellschaft jedwede Form der Ungleichheit, nicht nur die der Chancen, radikal beseitige.

Nun ist die Gesellschaftstheorie und -politik der Sozialisten im wesentlichen vom Gleichheitsprinzip bestimmt. Dies zeigt sich neuerlich in der derzeit laufenden Programmdiskussion. Zwar fehlt es nicht an Beteuerungen, daß der Sozialismüs Gleichmacherei ablehne; zahlreiche Einzelforderungen der Programmentwürfe zielen jedoch auf Gleichmacherei; es besteht sogar die Tendenz, Gerechtigkeit mit Gleichheit zu identifizieren.

Die übermäßige Beachtung und Realisierung des Gleichheitsgrundsatzes hat eine Reihe von Konsequenzen, die weithin bekannt sind. Hier soll nur gesagt werden, daß durch die Forcierung dieses Prinzips ein sozialer Strukturwandel bewirkt oder verstärkt wird, der in einer Entropievermehrung Ausdruck findet.

Die sozialistische Gesellschaftspolitik steuert also, bewußt oder unbewußt, auf die „soziale Entropie“ zu.

Entropievermehrung ist aber, wie schon gesagt, die Evolutionsweise der toten Materie. Eine Gesellschaft, deren Struktur sich im Sinne zunehmender Entropie verändert, verliert demnach an Lebendigkeit, an Leistungskraft, an Kreativität und Uberlebensfähigkeit Indem der Sozialismus durch seine Uberbewertung des Gleichheitsprinzips die gesellschaftliche Entwicklung' in der Richtung auf die „soziale Entropie“ hinleitet, erweist er sich in der Tat als eine „Sackgasse der Evolution“.

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