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Die Herausforderung

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Mit Günzls „Neuem Denken“ liegt ein Buch vor, das die Aufhebung des Marxismus in all seinen Spielarten, aber auch eine überzeugungskräftige Kritik an der ideologischen sowie gesellschaftspolitischen Grundlegung der Sozialisten und Sozialdemokraten bedeutet. Durch dieses Neue Denken sind Marxisten und Sozialisten in die Defensive gedrängt und herausgefordert. Sie können daran nicht vorübergehen und werden es schwer haben, ihre geistigen Positionen zu verteidigen. Auch sie werden umdenken müssen.

Günzls Buch macht, nicht zuletzt durch mehrere anschauliche Beispiele, auch dem durchschnittlich gebildeten Zeitgenossen klar, was Struktur ist. Er weist auf die Verschiedenheit der ErscheinungsfclfaJen von Strukturen hin und erörtert auch die Gesetzmäßigkeiten, nach denen sich Strukturen umbilden.

Einer der Grundgedanken des wissenschaftlichen Sozialismus ist die These, daß ausschließlich der Kampf der Gegensätze Bewegung und Fortschritt zu erzeugen vermöge. Der Kampf der Gegensätze gilt als einziger Antrieb der Geschichte. Es liegt auf der Hand, daß diese Denkweise grundsätzlich außerstande ist, die Vereinigung von Gegensätzen, das Zusammenwachsen verschiedenartiger Elemente zu größeren Komplexen rational zu bewältigen. Der wissenschaftliche Sozialismus kann Inte-grationsprözesse gedanklich nicht erfassen, daher auch nicht konzipieren und steuern. Weil es aber heute im Interesse des Uberlebens der Gattung Mensch unausweichlich geworden ist, das ganze Raumschiff Erde zu einem einzigen ultrastabilen System zu integrieren, ist der Marxismus in allen seinen Spielarten, der den Kampf der Gegensätze als ausschließlichen Motor der Geschichte sieht, eben überholt, ja zu einer Gefahr für das Menschengeschlecht geworden!

Günzls Buch stellt aber auch das geistige Fundament der Sozialdemokratischen Bewegung in Frage. Insbesondere gegen das Gleichheitsdogma, welches nach wie vor im Zentrum der sozialdemokratischen

Ideologie steht, liefert es Argumente, die bisher noch nicht zu hören waren.

Es handelt sich hiebei um folgendes: Günzl erörtert die Wandlungsprozesse an Strukturen und zeigt auf, daß es hier zwei grundverschiedene Typen von Wandlungsprozessen gibt. Der eine führt zur Entropievermehrung, der andere zur Vermehrung negativer Entropie. Entropievermehrung bedeutet, daß sich innerhalb eines Systems die Energiedifferenzen ausgleichen, was zur Folge hat, daß die inneren Bewegungen, die innere Lebendigkeit und Buntheit des Systems verlorengeht. Das System erstarrt zu einem leblosen Gebilde.

Auch die Strukturen der Menschlichen Gesellschaft machen Wand-lungsprozesse mit, und auch hier scheint es, daß beide Prozeßtypen möglich sind und auch vorkommen. Es gibt die Möglichkeit zu fortschreitender „sozialer Entropie“, aber auch den Fortschritt zur „informierten Gesellschaft“.

Es liegt nun auf der Hand, daß eine Gesellschaftspolitik, die das Gleichheitsprinzip an die Spitze ihrer Wertordnung stellt, Nivellie-rungsprozesse in Gang setzen muß. Eine politische Bewegung, die dem Gleichheitsmythos frönt, wie der Großteil auch der sozialdemokratischen Parteien, drängt also die gesellschaftliche Entwicklung in eine falsche und verderbliche Richtung ab.

Günzls Buch macht diesen Grundirrtum aller sozialistischen Bewegungen in recht überzeugender Weise transparent, bleibt aber bei der Kritik des Gleichheitsdogmas nicht stehen. Er empfiehlt vielmehr das partnerschaftliche Gesellschaftsmodell, das eben nicht die soziale Entropie, sondern die informierte Gesellschaft zur Zielvorstellung hat.

DAS NEUE DENKEN — Als Bedingung einer Einheit von Theorie und Praxis. — Von Christof Günzl. Sozialpolitischer Verlag M. Tröstler, Linz a. d. Donau. 170 Seiten broschiert, 150 Schilling.

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