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Die Unbekannte

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Die Tragödien am Rande der Weltgeschichte ereignen sich meistens im stillen. Ihre Helden sind verschämt, fühlen sich nicht als Helden, sind bloß Getriebene, Verzweifelte ohne Ausweg, haben das Bitten aufgegeben und das Beten verlernt, sammeln Kraft für die letzte, entscheidende Minute. Was wissen die Anführer politischer Kämpfe von den Folgen ihrer Taten?

In einer Münchner Tageszeitung war unlängst unter den vermischten Lokalnachrichten an letzter Stelle folgendes zu lesen: „Aus einem Fenster im zehnten Stock des Hauses Elektra- straße 5 in Bogenhausen stürzte sich am Freitag früh eine 26jährige polnische Staatsangehörige, eine Schauspielerin. Sie schlug auf dem Gehsteig auf und war auf der Stelle tot. Die Frau hatte seit einiger Zeit bei Bekannten in dem Haus an der ' Elektrastraße gewohnt. Abschiedszeilen wurden nicht gefunden.“ Die davor stehende Meldung trug den Titel: „Badesaison geht zuEnde.“

Ja, die Badesaison geht zu Ende und in Danzig tagen die Aktivisten der Gewerkschaft „Solidarität“ und in Moskau formulieren Funktionäre geharnischte Telegramme und in Warschau beraten die Herren Kania und Jaruselski über die politische Lage, aber was nützt das alles der 26jäh- rigen polnischen Schauspielerin in München, Bogenhausen?

Sie hatte davon geträumt, die Elektra zu spielen und jetzt sitzt sie immerhin wenigstens in der Elektrastraße bei Bekannten, sie befindet sich, im freien Westen, aber im Zimmer in Bogenhausen sind die Himmelsrichtungen nicht zusehen, Westen ist nur ein Wort, und die Freiheit wäre an und für sich etwas Gutes —, wenn man in der Lage wäre, die freien Möglichkeiten zu nützen.

Aber die 26jährige polnische Schauspielerin in der Elektrastraße sieht keine Möglichkeiten, sie kann nur polnisch und wo könnte sie in polnischer Sprache Theater spielen, und sie hat keine Kraft mehr, um Almosen zu erbetteln oder auf die Erfüllung von vagen Versprechungen zu warten, sie muß essen und trinken und arbeiten und träumen, aber wie? Und wo? Und auf wessen Kosten?

Ich sehe sie vor mir, sie, die von allen Utopien Enttäuschte, fern jeder Bühne, jeder Möglichkeit, sich in den nächsten Wochen mir irgendeiner Arbeit das Brot zu verdienen; man braucht eine Arbeitsbewilligung, eine Aufenthaltsgenehmigung, man braucht vielleicht ein Visum, Reisekosten, irgendeine Hoffnung, man braucht ein freundliches Wort.

Stille, Einsamkeit. Aus dem Fenster im zehnten Stockwerk die Aussicht. Und keine Aussicht. Keine.

Der letzte Platz, der der 26jährigen Schauspielerin noch zur Verfügung steht, ist der Platz unter den vermischten Lokalnachrichten. Kein Theaterkritiker wird über ihren Auftritt jemals berichten. Sie bleibt anonym.

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