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Ein Poet aus Königgrätz

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Ein Diplomat verläßt Wien, tritt in den Ruhestand: die Nachricht klingt nach Alltag, nach Routine. Wir können sie aber auch anders formulieren. So: Ein Schriftsteller aus dem alten Österreich zieht sich in das Heilige Land zurück, um dort während der nächsten Jahre zwei Bücher zu schreiben. Einen Roman über Jerusalem und eine Darstellung der sowjetischen Politik mit psychologischen Mitteln, also gewis- _ sermaßen das Psychogramm eines Staates. Der Diplomat heißt Avig- dor Dagan. Er vertritt Israel in Wien. Doch früher einmal hat er ganz anders geheißen. Viktor Fischl. Und ist damals, ist lange noch tschechischer Poet gewesen, in Prag geschätzt, mit literarischen Preisen bedacht. Auch heute schreibt er tschechisch. Gerade ist in Zürich sein Roman „Hahnenschrei” erschienen, „eine literarische Entdek- kung ersten Ranges”, wie der Kritiker David Lazar schrieb: ein strenger Mann, von Literaten in Israel nicht ohne Grund gefürchtet.

Avigdor Dagan, oder eigentlich Viktor Fischl, ist 1912 in Königgrätz geboren. Ausgerechnet in Königgrätz.” Er lächelt halb wehmütig, halb spöttisch: ein kleiner, feiner Mann mit einem kleinen, feinen Lächeln. Sobald er sich, um nachzudenken, um sich nachdenklich die Augen zu reiben, die Brille vom Nasenrücken hebt, wirkt er plötzlich wie verjüngt. Bubenhaft. Fast verlegen. In Königgrätz geboren also, „ausgerechnet”. Vater Oberleutnant der Reserve, k. u. k. Infanterie, im ersten Krieg verwundet und dann in Agram stationiert. Dort ging Viktor Fischl in die Schule. Lernte kroatisch. Und sah dem Vater zü, wie er in den Wiener Gazetten aufgeregt blätterte, denn die Nachricht von der Verleihung des Signum Laudis konnte an jedem Tag erscheinen. Und erschien dann auch.

Aus der Lebensgeschichte wird Weltgeschichte. 1938 miß der junge tschechische Lyriker in die Emigration. In London ist er nun Diplomat der exilierten Tschechen unter der Leitung von Jan Masaryk. Er lernt auch den späteren Außenminister Clementis kennen. Jan Masaryk fiel dann in Prag aus einem Fenster, Clementis wurde unschuldig ge-

henkt; er ist nun in seiner Heimat längst wieder rehabilitiert. Viktor Fischl kehrte nach Prag zurück. Als tschechischer Diplomat verhandelte er 1946 in Paris auch mit Raab, mit Figl. Ein Altösterreicher mit den Neuösterreichem.

In den späten vierziger Jahren wurde aus Viktor Fischl der israelische Diplomat Avigdor Dagan. Nach Tokio, nach Rangun, Warschau, Belgrad oder Oslo war er nach Wien gekommen; nach zehn Gedichtbänden, nach Romanen und politischen Büchern hat er dann „Hahnenschrei” verfaßt. Vielleicht wird es auch deutsch zu lesen sein: farbenprächtige Prosa, geheimnisbeladen, expressionistisch, ein kleines Meisterwerk der tschechischen Literatur.

Der kleine feine Mann aus Königgrätz hat in Wien viele Freunde. Er wird fehlen im halb politischen, halb kulturellen Treiben dieser Stadt, in der Diplomatie zum Teil Literatur ist und Literatur oft nur eine Frage von Diplomatie. Doch bleibt das Beispiel der Bescheidenheit und der geistigen Leistung, bleibt auch das nachdenkliche Bild all dieser österreichischen Verästelungen: wie weit reicht doch die längst verschwundene Einheit! Und w ie stark undw irksam ist sie immer noch.

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