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Ein Zentrum des christlichen Rußland

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Mit den Berichten über den Raubdruck von Alexander Solschenizyns jüngstem Roman „August 1914“ ist der Name eines Pariser Verlages durch die Presse gegangen, der selbst in Paris nur unmittelbar Interessierten bekannt ist: die YMCA-Press. — Von den zahlreichen russischen Emigrationsverlagen, die in den zwanziger Jahren vor allem in Berlin, Paris, London und New York gegründet wurden, ist kaum einer übriggeblieben. Ihre eigentümliche Velagsgeschichte erklärt, warum die 1921 in Prag gegründete YMCA-Press überleben und kürzlich ihr 50jähriges Bestehen feiern konnte.

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Mit den Berichten über den Raubdruck von Alexander Solschenizyns jüngstem Roman „August 1914“ ist der Name eines Pariser Verlages durch die Presse gegangen, der selbst in Paris nur unmittelbar Interessierten bekannt ist: die YMCA-Press. — Von den zahlreichen russischen Emigrationsverlagen, die in den zwanziger Jahren vor allem in Berlin, Paris, London und New York gegründet wurden, ist kaum einer übriggeblieben. Ihre eigentümliche Velagsgeschichte erklärt, warum die 1921 in Prag gegründete YMCA-Press überleben und kürzlich ihr 50jähriges Bestehen feiern konnte.

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Als fast symbolisches Wunder betrachtet ihr Direktor Jean Morozov die Tatsache, daß nicht etwa Russen die Initiatoren und Gründer des Verlages waren, sondern protestantische Amerikaner, die vor der Revolution in Rußland lebten, die Sprache lernten und zu der Ansicht gelangten, daß der russisch-orthodoxen Kirche und Kultur in der Entwicklung der Weltzivilisation eine große Rolle zukäme. Dr. John Mott, Generalsekretär der Young Men Christian Association und Gründer der YMCA-Press, hatte 1921 seine Mitarbeiter Dr. Paul Anderson, Edgar Mac Naughton, Donald Lowrie und den Schweizer G. Kuhlmann von der Notwendigkeit eines Publikationsforums für die gewaltsam vertriebenen russischen Philosophen, Theologen und Schriftsteller überzeugen können. Von Anfang an war so das Verlagsziel nicht tagespolitisch, sondern religiös und als Gegengewicht zur atheistischen Sowjetunion bestimmt.

Die YMCA-Press folgte der russischen Emigrantenwelle von Prag nach Berlin und übersiedelte 1924 nach Paris. Im Berliner Exil war der Philosoph und Theologe Nikolai Berdjajew (1874 bis 1948) zu dem Verlag gestoßen und sollte später in Paris neben seinem Freund, dem Theologen Serge Bulgakow (1871 bis 1944) der wichtigste Inspirator und Autor der YMCA-Press werden und den Verlag darin bestärken, sich ganz in den Dienst der christlich-orthodoxen Kultur zu stellen. Berdjajew, nach Morozov der „Apologet des orthodoxen Gedankenguts“, ließ seine 1916 in Rußland gegründete Zeitschrift „Putj“ (Der Weg) in Berlin bei der YMCA-Press erscheinen (1938 wurde sie in Paris eingestellt) und im Laufe der Jahre den Großteil seiner Werke (Probleme des Kommunismus, Mensch und Maschine, Marxismus und Religion, Zwei Studien über Jakob Böhme u.a.) in Paris verlegen. Die YMCA-Press veröffentlichte ebenfalls die Werke des in der Sowjetunion als Ketzer verteufelten Serge Bulgakow (Morozov: „Ein wirklicher Prophet!“), darunter sein Hauptwerk „Vom Marxismus zum Idealismus“. Unter Bulgakows unveröffentlichten Manuskripten liegt Morozov eine philosophische Betrachtung „Die Tragödie der westlichen Philosophie“ besonders am Herzen.

Mit der Niederlassung in Paris erweiterte sich das Aufgabenfeld der YMCA-Press dank der engen Zusammenarbeit mit dem hier ansässigen „Institut de Theologie Orthodoxe de Saint-Serge“. Beinahe alle Lehrkräfte dieses Instituts wurden YMCA-Press-Autoren, so daß Morozov heute sagen kann: „Ohne das Institut hätte die YMCY-Press nicht weiterbestehen können, ohne die YMCA-Press hätte das Institut nicht expandieren können.“

Der 1919 in Estland als Sohn russischer Eltern geborene Morozov kam 1938 nach Paris, um am Institut zu studieren und lebt seitdem hier. In Rußland war er nie. Er versteht sich als Verbindungsmann und Vermittler zwischen der YMCA-Press, deren Direktor er 1959 als Nachfolger Andersons wurde, und dem 1923 in Paris gegründeten orthodoxen Studentenbund „Action Chretienne des Etudiants russes“, dessen Generalsekretär er von 1944 bis 1960 war. Noch heute lehrt er russisch-orthodoxe Kirchengeschichte am Institut. Neben den zwei ursprünglichen Verlagszielen — allen lebenden orthodoxen Theologen und Philosophen eine Publizierungsmöglichkeit zu bieten und die Verbreitung des klassischen orthodoxen Gedankenguts in der ganzen Welt zu gewährleisten — steht daher seit Morozovs Verbindung mit der YMCA-Press als drittes: der gläubigen russischen Jugend ein orthodoxes Welt- und Leitbild zu geben. Er weist darauf hin, daß sich der Einsatz des kleinen Verlages gelohnt hat: seit geraumer Zeit gelangten seine Titel in die Sowjetunion und werden dort besonders von der studentischen Jugend verlangt und diskutiert.

Uber die in Deutschland gemachte

Bemerkung, der Verlag sei „ein nicht legitimes Untergrundunternehmen“, kann Morozov nur den Kopf schütteln. Für ihn ist die YMCA-Press „die Zentrale, die die russische Kultur in die ganze Welt trägt“. Sie ist finanziell nicht die stärkste, arbeitet viel mit Volontären und muß ihre Auflagen auf meistens 1000, höchst selten 5000 Exemplare beschränken. Die spektakulärste Ausnahme war im Juni 1971 Solschenizyns 570 Seiten starker Roman „August 14“. Die bisher gedruckten 20.000 Exemplare sind praktisch verkauft. Dieser Erfolg hat Morozov überzeugt, daß in der Sowjetunion verbotene russische Belletristik von im Westen lebenden russischen Emigranten und Russisch Studierenden mehr gefragt ist als theologische oder philosophische Literatur. Damit aber gerade deren Finanzierung in Zukunft gesicherter ist, wird sich die YMCA-Press verstärkt für schöngeistige Titel einsetzen. Von Ossip Mandelstams Memoiren, die in Kürze erscheinen sollen, erhofft sich Morozov einen weiteren Verkaufserfolg. Auch hier, wie im Fall Solschenizyn, betont er, daß gewissermaßen als Belohnung für jahrzehntelanges Festhalten am russisch-orthodoxen Kulturgut seinem Verlag die Erstveröffentlichung dieser Manuskripte angetragen wurde. „Ich finde es ganz natürlich, daß

Solschenizyn sich für die Arbeit der YMCA-Press interessiert und sich an uns gewandt hat. Wir haben ja bereits ,Krebsstation' und den ,Ersten Kreis der Hölle' bringen können. Wir erfüllen eine große Aufgabe, denn wir vermitteln den Reichtum der russischen Kultur des 20. Jahrhunderts an Rußland und die übrige Welt. Nach Dostojewski, Tolstoi und Gogol ist nun Solschenizyn der vierte große Dichter Rußlands, der der orthodoxen Kultur neue Weltgeltung bringen wird.“ Im übrigen schweigt sich Morozov über Solschenizyn aus, nur soviel läßt er durchblicken, daß das Originalmanuskript von „August 14“ zuerst an ihn gelangt ist, bevor es an Solschenizyns Schweizer Anwalt weitergegeben wurde.

Morozov scheut sich nicht, noch einmal das Wort „Wunder“ auszusprechen. Es sei ein Wunder, daß ausgerechnet amerikanische Protestanten ihre Lebensaufgabe in der Bewahrung der russisch-orthodoxen Kultur gefunden hätten. Die YMCA-Press hat allerdings deshalb aus den eigenen Reihen manchen Vorwurf hören müssen: sie hätte mit den Amerikanern einen Pakt geschlossen, ihren eigenen Glauben an die Protestanten verkauft. Morozov: „Das ist natürlich falsch. Die YMCA-Press hat in der Emigration in großer Armut schon früh der orthodoxen Kirche und Kultur gedient. Sie hat bedeutenden Geistern die Möglichkeit gegeben, sich Gehör zu verschaffen und besitzt heute einen Fundus von unschätzbaren Reichtümern für alle jene, die an Rußland glauben.“

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