Der Phönix von Notre-Dame

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Der einzige unbefleckte Mensch ist die Muttergottes, die ohne Erbsünde auf die Welt kam, um die Insemination durch das Ohr zu empfangen. Eine Taube kratzt das nicht, selbst wenn sie bei Notre-Dame genistet hat. Sie wäre längst am Rive Gauche und blickte durch die Fensterscheibe. Die Flecken auf dem Tisch dahinter stammten vom Bordeaux, Confit de Canard, Sauternes und Mousse au Chocolat. Die Brösel aber zögen die Aufmerksamkeit des Vogels an.

Das Tischtuch würde zusammengeknüllt und aus dem Fenster gehängt, damit die Brösel auf die Gasse fallen. Die Taube stürzte sich auf die Brösel. Sie würde vielleicht in den Ritzen und Simsen und kleinen Höhlen im Verputz für eine Zeit wohnen. Sie wäre natürlich nicht monogam und das könnte man hören. Sie wäre auch nicht einfältig, sondern erhöbe sich über die Stadt. Sie hätte einen schlechten Ruf, ungeniert schisse sie deshalb herum. Sie flöge und dann hockte sie auf dem Fensterbrett und gurrte. Man müsste diese aufdringliche Anarchistin verscheuchen.

Das befleckte Tischtuch wäre nun von den Bröseln befreit und landete in der Waschmaschine. Die Hausfrau stünde daneben, um die Wäsche zu machen. Die Arme hätte sich also fürs Private entschieden und wäre zu Haus geblieben. Für die Taube wäre es an der Zeit, für eine neue Behausung zu sorgen. Eine Reisegruppe tummelte sich und trüge eine kleine Flagge zum Zeichen der Zusammengehörigkeit mit. Auf dem weißen Fähnchen knallte der rote Fleck. Er symbolisiert die aufgehende blutrote Sonne eines pazifischen Morgenlandes. Hätten Tauben in Japan einen besseren Ruf?

Tauben haben blaues Blut und angeblich keine Galle. Das Feuer von Notre-Dame wäre schon gelöscht. Die Taube überflöge das Feld mit der Asche. Sähe man sie kreisen, könnte man sie für einen Phönix halten, zur Erinnerung an die Emanzipation statt Ohren-Insemination. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Zu Pfingsten könnte sie landen.

Die Autorin ist Schriftstellerin

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