Die Demo für Neuland

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Als der Lieferwagen abrupt neben der Kreuzung hält und ein leicht bekleideter Jugendlicher herausspringt, mit den Händen den Laternenmast erwischt, den Schwung abfedert und das Schloss mit der Geldbüchse am leeren Zeitungssack aus Plastik abmontiert, schneit es. Du gehst die Auslagen entlang und bist etwa gleich schnell bei der nächsten Kreuzung angelangt, wo der Lieferwagen schon wieder mit hohem Tempo um die Ecke rast und der Jugendliche vor deiner Nase aus dem Laderaum des Lieferwagens hetzt, um den nächsten Zeitungsständer abzumontieren.

Du selber hältst inne vor dem Zebrastreifen. Was für eine Kulturleistung dieser Schutzweg bedeutet. Sofort entwickelt sich dein Inselbewusstsein, als wäre deine Sicherheit gewährt. Sie besteht aus der Regel, dass man stehenbleibt und dir Zeit gibt, wenn du von einem Straßenufer zum anderen wechselst. Aber was geschieht, wenn man dich übersieht? Du bist zwar ein Niemand, doch aus Fleisch und Blut. Du hörst den Motor heulen. Deine Gewissheit bekommt Risse und du blickst skeptisch in die Richtung des Lieferwagens.

Der Fahrer trägt einen Turban. Der Schnee fällt durch den Lichtkegel. Skepsis steigt auf, wo hat der Zeitungslieferant das Autofahren gelernt? Nimm dich in Acht und den Augenkontakt auf. Solltest du dich schämen für deinen Verdacht, keine Bange, das ist normal, denn du kennst Trunkenbolde am Steuer und kannst daher allgemein auf Verantwortungslosigkeit schließen. Siehst du die Augen? Natürlich gibt er Gas.

Das Auto ist alt. Und die Räder? Auf der Straße liegt schon weihnachtlich der Schnee. Der nächste Zeitungsständer ist zum Greifen nah. Der Blick ist darauf fixiert. Winke um Aufmerksamkeit. Oder trete zurück. Der Schutz des Schwächeren hat Vorrang vor jedem Akkord. Aber wenn du dir überlegst, was der Lohn dieser Zeitungsmänner ist? Du spürst die Zweifel über deine Normalität. Jetzt betrittst du Neuland.

Die Autorin ist Schriftstellerin.

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