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Klatsch als Ersatz

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Klatsch ist eine der ältesten Halbwahrheiten. Klatsch hat deshalb eine gleichsam magische Macht sowohl über seine Subjekte als auch über seine Objekte. Ihm wohnt noch jener mittelalterliche Rumpelstilzchenglaube inne, daß das Wissen um den Namen geheime Macht über die Person verleihe. Klatsch aber ist viel mehr als nur der Versuch, seine eigene Ohnmacht am anderen zu rächen, indem man ihn zu Opfern dessen macht, wovon man sich selber gern befreite. Klatsch ist gleichzeitig die Lust der Beherrschten und Vergewaltigten.

Was wird da institutionalisiert? Welche Bedürfnisse glauben die Produzenten, die Klatschkolumnisten bei den Konsumenten zu wecken oder zu befriedigen, und welche Bedürfnisse und Ansprüche haben sie selbst? Der Bedarf an Klatsch in unserer Gesellschaft ist groß, die Nachfrage steigt — wer sind die Unbedarften und die Bedürftigen, und wer sind die Frager?

Wenn man etwas aus dem Privatleben einer Persönlichkeit des öffentlicheh Lebens“ erfährt, ob Politiker, Schriftsteller oder Schauspieler, so fühlt man sich besser bei ihr zu Hause. Zu wissen, daß ihn seine Frau betrogen hat und mit wem, verschafft einem für kurze Zeit die Illusion, man wisse mehr über ihn, er wird plötzlich vertraut, hat die gleichen Schwächen wie wir, man kann ihn bemitleiden oder um seine Frau beneiden, kurz er ist für eine Weile einer der unseren. Trifft er dann eine politische Entscheidung, läßt ein Buch veröffentlichen usw., rückt er wieder ab in weite Feme, entfremdet sich, entzieht sich unserer Gewalt und unserer Kontrolle. Klatsch vermittelt seinem Produzenten und seinem Abnehmer ein sauberes Gewissen und ein gutes politisches Alibi. Der Kolumnist hat jemanden bloßgestellt und seine aufklärerische Pflicht getan, der Leser hat es mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, der Bloßgestellte freut sich über die kostenlose Publicity, alle haben ihren Spaß gehabt, und alles bleibt beim alten. Die Sozialisten nennen das Reproduktion der Gesellschaft.

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