Ich habe eine Schwäche für Menschen, die, wie man sagt, in der zweiten Reihe stehen: Im Fußball der Nationalspieler, der immer die Ersatzbank drückt; die Schauspielerin, die einen Oscar als „best supporting actress“ bekommt; die Büroleiterin des Ministers; der Verlagslektor des berühmten Autors. Oft wissen nur Eingeweihte, dass diese Menschen zwar kaum bekannt, aber in ihrem Bereich einflussreich und wichtig sind. Vor genau 150 Jahren, Anfang Juli 1869, starb Rabbi Schlomo Kluger, auf den diese Beschreibung zutrifft. Kluger war ein orthodoxer Rabbiner und Gesetzeslehrer im galizischen Brody, das heute in der Ukraine liegt.
Dort war er fast 50 Jahre lang der oberste jüdische Religionsrichter, in einer Zeit tiefgreifender Umbrüche, als die religiöse Modernisierung die Autorität der traditionellen Rabbiner in Frage stellte. Als Richter traf er Entscheidungen, die das Leben vieler Juden beeinflussten, etwa zu Beerdigungsriten oder den Vorgaben für das rituelle Schlachten und die Herstellung von ungesäuertem Brot zum Pessach-Fest. Zudem erleichterte er das Los vieler Frauen, deren Ehemänner verschwanden oder eine Scheidung verweigerten und damit die Frauen in nur noch formal bestehenden Ehen gefangen hielten. Klugers Rechtsgutachten füllen 60 Bände, seine Predigten etwa 70 Bände. Zudem verfasste er viele Kommentare zum Talmud – und ist heute dennoch weitgehend unbekannt. Er steht im Schatten bekannterer Rabbiner, die die Orthodoxie in den Jahrzehnten nach seinem Tod prägten. Seine Erinnerung wird nur noch in Teilen der Orthodoxie bewahrt, allerdings eher mit Bewunderung als mit kritischer Distanz. Sein Todestag in dieser Woche könnte Anlass ein, auch in anderen Lebensbereichen interessante Persönlichkeiten in der zweiten Reihe zu würdigen.
Der Autor ist Wissenschafter am Institut für Jüdische Theologie der Universität Potsdam