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Historisch mehrdeutig

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Die getrennte Verabschiedung der west-alhierten und der russischen Truppen, die sich bisher auf deutschem Boden befunden haben und nun abziehen, hat für die deutsche Regierung nicht nur heikle protokollarische Probleme aufgeworfen, sondern auch das Selbstverständnis weiter deutscher Bevölkerungskreise arg strapaziert. Denn besonders im Fall der sowjetischen Besatzungsmacht, die in den ersten Nachkriegsjahren vielfach den Hitler-Terror durch den stalinistischen ersetzte, kollidieren widerstreitende Gefühle: einerseits das Gefühl der Dankbarkeit wegen der Befreiung vom Joch des Tausendjährigen Reiches, andererseits das Gefühl und Bewußtsein der militärischen Niederlage, der Demütigung und Beleidigung durch die Sieger.

Auch in Österreich stellten sich 1945 und beim Abzug der Besatzungstrup-)en 1955 ähnlich ambiva-ente Gefühle ein, obwohl das Bewußtsein der Niederlage bei uns wenigstens offiziell wegfiel, da Österreich als Staat nicht am Krieg teilgenommen hatte.

Die Beispiele lehren, daß historische Ereignisse oft vielschichtig sind und verschiedene Gefühle erwecken, daß demnach die historische Wertung der Zeitgenossen, umso mehr aber der Nachwelt mehrdeutig ist und auch bleiben kann. In historischer Perspektive werden ursprünglich eingenommene Haltungen meist relativiert, wenn nicht ins Gegenteil verkehrt, die Zeit verwandelt Siege in Niederlagen und umgekehrt. Die Weltgeschichte ist zwar das Weltgericht, aber sie ist nicht imstande, dem endgültigen Urteil sub specie aeternitatis unter Berücksichtigung aller eingetretenen Folgen vorzugreifen. Deshalb verbleiben historische Urteile in der Regel in der Schwebe der Mehrdeutigkeit.

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