Mehr Zeit für Gefühle!

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Sich bewusst mit unseren Gefühlswelten auseinanderzusetzen, wäre ein kulturell lohnendes Unterfangen.

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Sich bewusst mit unseren Gefühlswelten auseinanderzusetzen, wäre ein kulturell lohnendes Unterfangen.

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Helle Freude, schäumende Wut, beißende Scham – waren diese Gefühle immer schon da? Sind emotionale Regungen ein universeller Teil unseres Menschseins? Oder sind sie von Zeit und Kultur dermaßen geprägt, dass es unmöglich ist, sich in die Gefühlswelten ferner Epochen hineinzuversetzen? Das sind die Fragen, die am Beginn einer neuen „Geschichte der Gefühle“ stehen.

In seinem heuer publizierten Werk spannt der Historiker Rob Boddice einen weiten Bogen, von den „klassischen Leidenschaften“ der Antike bis zur „Herrschaft des Glücks“, hervorgebracht durch den neoliberalen Zeitgeist des 21. Jahrhunderts. Warum die Geschichtswissenschaft zuletzt ein brennendes Interesse für Gefühle entwickelt hat, ist ebenso eine spannende Frage. Das Bedürfnis, die Gefühle der Vergangenheit zu erforschen, spricht Bände über unsere Zweifel hinsichtlich der Gefühle der Gegenwart, meint Rob Boddice.

Die Kriegsenkelgeneration hätte die Möglichkeit, eine heilsame Kultur der Gefühle zu entwickeln. Nur leider ist sie so eingespannt, dass keine Zeit dafür bleibt.

Emotionen seien nicht zeitlos, sondern letztlich politisch: „Das Erleben ist auf überwältigende Weise von den Vorschriften und Begrenzungen durch diejenigen beeinflusst, die Macht haben.“ Die individuelle Emotionsregulation untersteht einem „emotionalen Regime“, das in der Regel gar nicht als solches erkannt wird. Diese These lässt sich anhand der neoliberalen Gefühlslandschaft verdeutlichen, in der Emotionalität zunehmend den ökonomischen Interessen untergeordnet wird: ein Regime positiver Gefühle und Stimmungen, in dem negative Emotionen als Störfaktoren so rasch wie möglich zu verbannen sind. Das kostet Kraft – wie wenn man einen Gummiball unter Wasser zu halten versucht. Lässt der Druck nach, flutscht der Ball wieder nach oben.

Trotz dieser wichtigen Kritik fehlt in Boddices Buch ein zentrales Kapitel für das Verständnis gegenwärtiger Gefühlswelten: die traumatischen Kriegserfahrungen, die für die heutige Großeltern-Generation Schlüsselerlebnisse waren. Verdrängte seelische Verletzungen und emotionale Unterversorgung prägten nicht nur die Kriegskinder, sondern hinterließen noch bei den Kriegsenkeln tiefe Spuren, so Psychotherapeut Wolfgang Krüger in seinem Buch „Die Geheimnisse der Großeltern“ (2015). Diese Enkelgeneration hätte nun die historisch einzigartige Möglichkeit, einen heilsamen Umgang mit Emotionen zu erlernen, eine „Kultur der Gefühle“ zu entwickeln. Nur leider ist sie so eingespannt, dass keine Zeit dafür bleibt.

Boddice Geschichte der Gefühle - © Foto: WBG Theiss
© Foto: WBG Theiss
Buch

Die Geschichte der Gefühle

Von der Antike bis heute
on Rob Boddice
Übersetzung: Mirjam Stiegel
WBG Theiss 2020
272 S., geb., € 25,70

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