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Ideologie des Totalitarismus.

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Ob die Weltgeschichte durch den Strukturalismus erschüttert worden ist, wird man sicher erst dann beurteilen können, wenn ausgemacht worden ist, ob die Weltgeschichte überhaupt etwas ist, das erschüttert werden kann.

Zweifellos aber hat die Bewegung, die unter dem Namen „Strukturalismus” das geistige Leben in Frankreich seit längerer Zeit in Atem hält, gezeigt, daß es einen Konnex zwischen dem Lebensgefühl einer Zeit gibt und dem, was man als deren kulturelle Leistung bezeichnet. Nach den vielen „Ismen”, die zum Teil historischen Erschütterungen zum Opfer gefallen sind, ist also wieder ein neuer daran, die Menschheit am Nerv zu treffen wie befürchtet wird. Der Jesuit Schiwy gilt als einer der wenigen Fachleute im deutschsprachigen Raum, die sich dem Phänomen Strukturalismus, das hierzulande auch den Universitäten noch weitgehend unbekannt ist, widmen und auch in der Lage sind, den deutschsprachigen Leser zu informieren. Das tim Anschlpß an das Buch „Strukturalismus und Christentum” erschienene Werk „Neue Aspekte des Strukturalismus” will über die Entwicklung dieser Bewegung innerhalb der letzten Jahre informieren. Schiwy berücksichtigt vor allem die Probleme, die aus der Auseinandersetzung des Christentums mit dem Strukturalismus erwachsen, wobei er die Methodik dieser Wissenschaft als eine mögliche Hilfswissenschaft der Theologie ins Auge faßt. Eine echte Konfrontation mit dem Phänomen Strukturalismus mag so lange als verfrüht gelten, solange es keine deutsche Schule dieser Art gibt. Daß der Strukturalismus für die Zukunft aber möglicherweise relevanter ist als obsolet gewordene Theorien der Menschheitsbefreiung, das dürfte, wie man auch an den eiligen Übersetzungen sieht, bereits in das Bewußtsein mancher Zeit-

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Was ist Strukturalismus? Als Vater der Bewegung gilt Claude Lėvi Strauß, der, als Enthole zwischen Linguistik und Anthropologie stehend, neue Gesetze der kulturellen Ausdrucksformen entdeckte. Die Sprachwissenschaft bemächtigte sich der Methode Strauß’, indem sie die Sprache nicht mehr historisierend betrachtet, sondern als System von Zeichen. Das Wesen der Struktur besteht in der Zedchenhaftigkeit, was sich in der entsprechenden Relation schließlich auf alle Wissenschaften übertragen läßt. Wesentlich ist nicht mehr die empirisch erfaßbare Wirklichkeit, sondern das dieser Wirklichkeit zugrunde liegende Modell. Die Struktur wiederum wäre eine Art Ganzes, eine Art System, in dem die ihm zugehörenden Teile ihren Charakter auf Grund der Zugehörigkeit zum Modell erfahren. Die Behandlung der Sprache im struktura- listischen Sinn liegt in der Erfor schung des ihr zugrunde liegenden Codes, in der Aufdeckung der diese konstituierenden Eigenschaften. Es ist unzweifelhaft, daß eine solche neue Methode eine Umwälzung in den Geisteswissenschaften hervorrufen könnte. An Stelle einer stark vom Geniekult vernebelten Kunstbetrachtung wäre etwa die Analyse der „literarischen Sprache” eine Möglichkeit, sprachliche Kunstwerke vom Staub ihres musealen Daseins zu befreien.

Sicher hat man den Strukturalismus viel zu früh als Ideologie verdächtigt, bevor er sich noch als eine Art Naturwissenschaft innerhalb der Geisteswissenschaften etablieren konnte.

Die Bedenken, die nun von allen Seiten laut werden, richten sich gegen extreme Exponenten, wie Althusser lind Fouoault! Die völlige Ausschaltung des Individuums aus dem Blickfeld der Betrachtungen ruft konservative Streiter auf den Plan, wie zum Beispiel auch Jean Paul Sartre. Daß der Strukturalismus das bisherige abendländische MenschenbÜd negiert, entspricht seiner Annäherung an die Naturwissenschaft. Ontologische Fragen, wie die Frage nach dem Glück, dem Sinn des Lebens, dem Woher und Wohin, bleiben ausgekäamimert, weil diese einem spekulativen, nicht aber wissenschaftlichen Denken entspringen. Dazu kommt bei Althusser und Fouoault eine akzentuierte Ablehnung des traditionellen geisteswissenschaftlichen Denkens, was in überspitzten Formulierungen doch schon recht programmatisch klingt: „Das am meisten belastende Erbe, das uns aus dem 19. Jahrhundert zufällt — und es ist höchste Zeit, uns dessen zu entledigen —, ist der Humanismus.”

Es bleibt offen, wie weit solche Äußerungen einer bereits im Bewußtsein der Allgemeinheit lebenden Müdigkeit und Apathie gegenüber dem Messianischen politischer und ideologischer Bewegungen entsprechen. Der Zusammenhang zwischen dem Dasein lethargischer Massen in der modernen Gesellschaft und einer „keimfreien Ideologie” wird sich doch da und dort von selbst hersteilen.

Schiwy bringt eine Unmenge von Quellen, die einen Überblick über die neuesten Erscheinungen erlauben. Ob der Strukturalismus die tödliche Gefahr ist, als die man ihn bereits betrachtet, wie Haedecke in der „Neuen Rundschau” (82/1971): „Der Strukturalismus erscheint als eine Ideologie der Auslöschung des Individuums… Ideologie eines neuen Homme-Machine, des geheimnislosen manipulierten, von übermächtigen Ordnungen niedergehaltenen Menschen… Ideologie der endgültigen Konfiskation des Humanismus, Signal einer nur zu schrecklichen Veränderung, einer tödlichen Drohung, die uns im Zeitalter hochindustrialisierter, totalitär gerichteter Großsysteme naherückt...” Oder ob er lediglich eine Brücke ist, die die Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaft zu überdecken vermag, wind die Zukunft zeigen.

NEUE ASPEKTE DES STRUKTURALISMUS. Von Günther Schiwy. 191 Seiten. Kösel-Verlag. DM 14.80.

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