Noch nimmt Rudolf Kassner weder in Österreich noch im übri- gen Europa den ihm gebührenden Platz ein, und zwar als „bedeu- tendster Kulturschriftsteller, den wir jehatten" (Hugo von Hofmanns- thal). Immerhin hat eine treue Gemeinde in Wien, geleitet von Frau Herta Staub und Viktor Suchy, so lange durchgehalten, daß nun auch der neunte Band der sämtlichen Werke in einer mustergültigen Edition erschienen ist.
Eine ungewöhnlich scharfe Be- obachtungsgabe gegenüber dem Physiognomischen in allen Berei- chen der Natur verbindet Kassner mit poetischer Phantasie als Wis- sen des Unbewußten. Unter solchen Voraussetzungen gewinnt seine philosophische Spekulation eine suggestive Überzeugungskraft. In dem Zentralstück des Bandes „Die Geburt Christi" entwickelt Kass- ner aus dem Traumgespräch des sterbenden Piaton mit seinem Leh- rer Sokrates den Überstieg aus der dialektischen Welt der Antike zum Menschen ohne Widerspruch, wo- rin sich der Sinn des Opfers und des Christentums enthüllt.
Worüber auch immer Kassner in diesem Band meditiert, über Eng- land, Paris oder die Tollkirsche, nirgends steht ein Satz, der ideolo- gisch vorprogrammiert wäre oder sich aus einem Fixum dogmatischer Gedanken ableiten ließe. Dieses so originelle spekulative Denken geht immer einen induktiven Weg der Geschichtlichkeit, stellt sich immer dem Hier und Jetzt. Die konkrete Begegnung und der Dialog sind die Quellen dieser Schriften und ihres sprachlichen Ausdrucks größter Unmittelbarkeit und geistigen Lebens.
SÄMTLICHE WERKE. Von Rudolf Kassner. Neunter Band herausgegeben von Ernst Zinn und Klaus E. Bohnenkamp. Verlag Günther Neske, Pfullingen 1990.1129 Seiten, öS 764,40.
