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Digital In Arbeit

Lotto spielen

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Eine junge arbeitslose Frau schildert ihre Situation: „Sieben Uhr morgens. Vor meinem Fenster fahren Hunderte von Autos vorbei - alle sind auf dem Weg zur Arbeit. Der Bauer nebenan fährt mit seinem Traktor los -alle haben ein Ziel, nur ich nicht. Dann kommt es wieder über mich, das Gefühl des Ausgeschlossenseins packt mich wie eine eiserne Klammer. Als ich das ,Klack' der Briefkastenklappe höre, gehe ich hinaus. Nur Werbung und der Kontoauszug. Neuerdings habe ich Herzklopfen, wenn ich den Kontoauszug öffne. Seit kurzem spiele ich Lotto. Darüber habe ich früher nur gelacht. Aber heute glaube ich, eher im Lotto einen Volltreffer zu landen, als noch einmal einen Arbeitsplatz zu ergattern."

Die Debatte um die notwendigen Beformen im Wohlfahrtsstaat erweckt den Eindruck, als wären Sparpakete die dafür allein tauglichen Instrumente. Sozialpolitik ist aber keine sparideologische Einbahnstraße. Im Unterschied zur Konkurrenz im nationalen Rahmen sind die Nationalstaaten und ihre Regierungen in der internationalen Konkurrenz nicht die Instanz für die Überwachung der Spielregeln, sondern Partei an der Seite „ihrer" Unternehmen im Kampf um Weltmarktanteile. Produktivkraftentwicklung wird zur Modernisierung für den Weltmarkt, die Verschärfung sozialer Unterschiede erweist sich als nützlich für den Weltmarkt, der Wohlfahrtsstaat wird umgebaut zur riesigen Armenküche für Bedürftige aus Bücksicht auf den Weltmarkt.

Die Forderung, Wirtschaft und Wirtschaftspolitik sollten der bestmöglichen Befriedigung der materiellen Bedürfnisse der Menschen dienen, sinnvolle Beschäftigung für alle bieten und durch schonenden Umgang mit Natur und Umwelt eine dauerhafte Entwicklung gewährleisten, tritt hinter dem Ziel des Weltmarkterfolgs zurück. Der Sparstaat verstärkt die Lebens- aber nicht Mindeststandard sichernde Umverteilungsmaschinerie, die die Bevölkerung vor sozialer Not nicht schützen kann. Die budgetären Interessenbürgerkriege lösen Egoismus-Epidemien aus, die über die Köpfe der nicht ausreichend Vertretenen hinwegbrausen. So viele haben lange nicht mehr Lotto gespielt.

Der Autor ist

Psychologe und Vorstandsmitglied von „SOSMitmensch".

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