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Leichengemeinschaft

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Seinerzeit hat man Brahms vorgeworfen, seine Schlußsätze bezögen ihren Elan nur durch den Gedanken: das Grab ist meine Freude. Hundert Jahre später versorgt der Begräbnisgalopp die Konzertsäle der Welt noch immer mit ästhetischen Vergnügen.

Günter Kunert setzt sein Brahms-motiv gleich auf die Titelseite seines neuen Gedichtbandes: Abtötungs-verfahren. Nach seiner Ubersiedlung aus der DDR (1979) braucht er sich ja keine Belebungsversuche von Ideenleichen aufzuhalsen. Er kann deren kurze Ausflüge ins Jenseits und anschließende Heimkehr ins Nichts mit Gelassenheit, ja mit Genugtuung verfolgen.

Wird Kunert ein Brahmsschick-sal beschieden sein? Es wäre durchaus möglich, denn Kunerts Melancholie und Resignation, seine Verwesungsrevue wird zur spannenden Lektüre, zum aufregenden Abenteuer. Wenn man so auf dem Komposthaufen lagert, verschränken sich die Daseinsebenen, das Organische mit dem Anorganischen: ein sehr origineller Zustand, der für uns nur in der Sprache, in der Kunert-schen Sprache erlebbar wird. Analytisch exakte Detailbefunde und panoramahafte Umschau in Natur-und Zeitgeschichte ergänzen einander.

Hinter dem Titel „Abtötungsver-fahren" steht eine alte spirituelle Praxis, nämlich die Askese. Kunert übt sie mit einem Blick auf die Zeitung, auf die Geschichte Berlins, auf die Wundmale unserer Epoche. Was die christliche Mystik das „Sich-Absterben" nennt, heißt bei ihm „den Umriß verlieren". In solchem „Sich-fallen-Lassen" lebt er sich aus, sein großes Talent genießend. Echte Askese aber kommt über den Tod hinweg, mündet im Werden, in der Beziehung stiftenden Tat.

ABTÖTUNGSVERFAHREN. Von Günter Kunert. Carl Hanse-Verlag München Wien,, 1980.92 Seiten, öS 138,60

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