7075125-1993_15_12.jpg
Digital In Arbeit

LÜGEN DIE KRETER WIRKLICH?

Werbung
Werbung
Werbung

Während des letzten Krieges fingen die Engländer einen Funkspruch der Deutschen auf. Der Text lautete: „Kleines U-Boot mit Schnorchel soeben aufgetaucht." Die Engländer rätselten lange über den Sinn dieser Durchsage, bis einer lachend auf die Idee kam, daß dieser Funkspruch dem deutschen U-Boot-Kommandanten Prien die Geburt seines Sohnes anzeigen sollte. Doch diese Erklärung wollte niemand glauben, weil keiner den Deutschen Humor zutraute.

Wenn die Deutschen wirklich „keinen Humor" hätten, dann würden die Engländer noch heute über den Sinn dieses Spruches rätseln...

Die meisten Menschen glauben, daß Stiere durch rote Farben gereizt werden. In Wirklichkeit sind Stiere farbenblind. Wir leben ständig mit einer Fülle von Vorurteilen. Ein Vorurteil ist, wie Goethe in seinen Schriften zur Farbenlehre schon 1810 definierte, ein „Urteil vor der Untersuchung". Und Apostel Paulus konnte Goethe noch nicht gekannt haben, als er an den Bischof Titus in Kreta schrieb: „Die Kreter sind immer Lügner" (Brief an Titus, 1. Kap., Vers 12). Lügen die Kreter wirklich?

Aus der Vorurteilsforschung ist bekannt: Touristische Unternehmungen führen nicht zwangsläufig zur Revision von Vorurteilen. Ganz im Gegenteil: 100 Millionen Begegnungen von Touristen können eher 100 Millionen Platzpatronen von Fehlurteilen, Vorurteilen und Mißverständnissen gleichen.

Viele Urlauber reisen in ein anderes Land, um ihre Vor-Urteile erst einmal bestätigt zu sehen. Und am Reiseziel werden die Reisenden von „Bereisten" erwartet, die wiederum ihre Klischees bestätigt haben wollen. Da es zudem oft sprachliche Verständigungsprobleme gibt, führen insbesondere kürzere Urlaubsreisen („Stippvisiten") zunächst mehr zur Verfestigung von Stereotypen. Erst längere, wiederholte und mehrmalige Reisen in Verbindung mit eigenen Reiseerlebnissen können Vorurteile abbauen helfen und wirkliches Verstehenlernen fördern.

Die meisten Menschen urteilen danach, was sie im privaten Umfeld und in den Medien „gesehen", „gehört" und „gelesen" haben. Erst der unmittelbare persönliche Kontakt in Verbindung mit positiven Erlebnissen löst Einstellungsänderungen aus. Erlebnisse auf längeren Urlaubsreisen „berühren" die Menschen, wek-ken Emotionen, machen sie betroffen und aktivieren sie.

Was die Menschen im Urlaub und auf Reisen erleben, hat Ereignischarakter, hinterläßt oft einen starken emotionalen Eindruck und bleibt nachhaltig in Erinnerung. Wenn der Eurotourismus zum Erlebnistourismus wird, entwickelt sich europäische Verständigung von selbst.

Dies ist die große Chance des Tourismus im neuen Europa: Reisen können in Zukunft grenzenlos und fast alltäglich werden. Wenn es zudem gelingt, die Sprachkenntnisse der Touristen so zu fördern, daß sie sich einander verständlicher machen können, und wenn sich die touristische Grundlagenforschung auch als öffentliche Wissenschaft versteht, die für eine breite Öffentlichkeit Wissen schafft, dann werden Vorurteile keine Vereinfachungen mehr sein, sondern Denkanstöße zum gegenseitigen Verstehenkönnen. Auf diese Weise wird - nachweisbar - nicht nur die soziale Distanz verringert, sondern auch das „mitgebrachte Bild" über „die" Ausländer korrigiert.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung