6857201-1977_20_12.jpg
Digital In Arbeit

Lulu auf Identitätssuche

Werbung
Werbung
Werbung

Beim Durchstöbern der Theaterliteratur von gestern nach Stücken mit gesellschaftspolitischer Relevanz für heute oder zumindest Bezügen zum unvermeidlichen Thema der Emanzipation stoßen die Dramaturgen immer öfter auf das bizarre Werk des Moralisten Frank Wedekind. Das neu erwachte Interesse an diesem Autor ist zweifellos nicht allein durch die Nostalgiewelle zu erklären, sondern mit gewissen Übereinstimmungen zeitkritischer Tendenzen von damals und heute. Etwas krampfhaft wirken allerdings die Versuche mancher Dramaturgen, die bourgeoise Gesellschaft um 1900 mit der unsrigen gleichzusetzen und Wedekind zum Systemkritiker spätkapitalistischer Demokratie aufzubauen.

An der Grazer Inszenierung von „Lulu“ (der Regisseur hat „Erdgeist“ und die „Büchse der Pandora“ zu sieben relativ knappen Bildern zusammengestrichen) läßt sich das Gewaltsame an dieser „Wedekind-Renais- sance“ unschwer ablesen: die seinerzeit radikal und unerhört wirkende Attacke gegen den Plüsch und die Stehkragenmoral des wilhelminischen Bürgertums geht heute ins Leere - da gibt es keine Türen mehr einzurennen. So bemüht sich Klaus Dieter Kirst, den man aus Dresden nach Graz geholt hat, in seiner Inszenierung Lulu den Nimbus des Geschlechtsdämons geflissentlich zu nehmen und sie als eine an der Gesellschaft Leidende zu zeigen, die durch alle ihre Rollen hindurch (die von pantomimischen Kostümwechsel-Szenen deutlich markiert werden) vergeblich ihre Identität sucht, bis sie-im Innersten unberührt - in den Tod durch den Lustmörder geht: dies wiederum ist ihr Protest gegen die Zwänge einer unmenschlichen Ordnung.

In der Praxis zeigt sich für den Zuseher, daß der junge Dresdner Regisseur zwar ein einfallsreicher Arrangeur dichter szenischer Stimmungsbilder ist, der die Grazer Schauspieler (allen voran Petra Fahmländer in der Titelrolle und Brigitte Antonius als lesbische Gräfin) vorzüglich zu führen versteht, dabei aber doch nicht verhindern kann, daß der Abend besonders im zweiten Teil ungebührlich lang wirkt und die intendierte Deutung nicht sehr einsichtig wird. Dies trotz einer meisterlichen Bühnengestaltung durch seinen ostdeutschen Kollegen Reinhart Zimmermann, dessen dekorative Ideen ebenso sehenswert sind wie die Kostüme von Hanna Wartenegg.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung