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Mythologie und Geschichte

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Wieder einmal versucht man zu beweisen, daß Geschichte keineswegs eine absolute Größe darstellt, sondern immer wieder neue Aspekte der Betrachtung gefunden werden, die zu einer Revidierung führen. In dem Buch „Als Zeus die Welt in Atem hielt“ zeigt Marianne Nichols Übereinstimmungen zwischen der griechischen Mythologie und der Geschichte der Bronzezeit Griechenlands auf, die, wie sie selbst zugibt, keineswegs die Geschichte auf den Kopf stellen, aber bis jetzt kaum beachtete Zusammenhänge aufzeigen sollen.

Wurde die Mythologie in der Antike als Hilfsmittel benutzt, um die gemeinsame Vergangenheit der Menschheit zu verstehen, so wurde in ihr im Zeitalter der Wissenschaft nicht mehr als eine Mischung aus Volksmärchen und Phantasie gesehen. Erst als Johann Schliemann um die Jahrhundertwende die „mythische“ Stadt Troja entdeckte, begann man einzusehen, daß die griechischen Mythen doch einen Wahrheitsgehalt besitzen müssen. Doch selbst die Entdeckung der in der Mythologie beschriebenen Städte Knossos und Mykene lieferten keinen so kräftigen Beweis für die Verbindung zur Geschichte wie die Tatsache, daß die griechischen Mythen im Gegensatz zu den Mythen anderer Völker fast immer eine genaue örtliche und zeitliche Präzisierung kennen. . Diese nahm Marianne Nichols als Grundlage für ihre - auf mythologischem Material basierende und dadurch diskontinuierliche - Geschichte der Bronzezeit Griechenlands, jener Zeit, in der die griechischen Mythen entstanden.

Was sie beschreibt, ist einigermaßen erstaunlich, nicht nur weil sie beweist.daß die meisten Gestalten der Mythologie in der einen oder anderen Form wirklich existierten, sondern vor allem, weil jeder Mythos aus einer bestimmten historischen Situation heraus entstand. So wird der Raub der Europa durch den in einen Stier verwandelten Zeus hier als anschauliche Metapher für die Verdrängung der kretischen Minoer aus ihren ägäischen Herrschaftsbereichen verstanden, wobei die Usurpatoren Festlandgriechen, nämlich die Mykener, waren. Da sie auch Anspruch auf die Urheimat der Minoer, auf Kreta, erhoben, ließen sie im Mythos die Nachkommen des Zeus auf dieser Insel das Licht der Welt erblicken, um auf diese Weise neue und durch göttliche Abstammung sowie „minoischen“ Geburtsort legitimierte, aber eben mykenische Herrschaftsgeschlechter zu etablieren.

Auch wenn die mythologisch-historischen Zusammenhänge in diesem Buch eine ungewöhnliche Geschichtsbetrachtung darstellen und an die These des in diesem Werk auch erwähnten Geologen Hans Georg Wunderlich erinnern, der unter anderem an Hand des verwendeten Baumaterials Alabaster nachzuweisen versuchte, daß die minoischen Paläste auf Kreta kultische Bauwerke für die Verehrung und Bestattung der Toten gewesen seien, steht eines fest: Von der Hand zu weisen sind Marianne Nichols Ausführungen keinesfalls, wenngleich sie auch keine absolute Theorie darstellen.

ALS ZEUS DIE WELT IN ATEM HIELT, von Marianne Nichols, Scherz, Bern 1977,359 Seiten, öS 227,15.

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