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Scharia Towa

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Die fallenden Nüsse knallen so hart auf meine Steinstufen, daß der faul in die Sonne blinzelnde Kater meiner Nachbarn einen erschrockenen Satz in den Schatten macht. Mich trifft noch der Rest einer aufplatzenden grünen Schale. Mich schrecktnichts, ichsitzeinder Sonne mitten im Reichtum, das heißt inmitten von Büchern.

Die Fäden des Spinnennetzes zwischen den Zweigen des Feuerdoms zerreißt der Wind noch nicht, der Duft des zerriebenen braunen Nußbaumblattes auf der flachen Hand erzählt wie jedes Jahr die alte Geschichte von guten Vorsätzen, von neuen Schulbüchern und den Vorräten für den Winter.

Rosch Haschana steht vor der Tür, das jüdische Neujahrsfest. 1990 entspricht laut dem jüdischen Kalender 5750. Ein gesundes, friedliches und friedenbringendes, glückliches 5750 allen, die - über die Welt verstreut—diese Hohen Feiertage begehen und im besonderen allen, die es in unserem Lande tun. Möge in eure Lebensbücher nur Gutes geschrieben werden!

Rosch Haschana, Tag des Gerichts. Die Rollen des Schicksals jedes einzelnen liegen aufgerollt vor dem Ewigen. In diese Rollen hat jeder Mensch seine Taten des vergangenen Jahres eingeschrieben. Böse wie gute. Gott liest die Eintragungen, richtet darüber und bestimmt das Schicksal jedes einzelnen für das kommende Jahr.

Zehn Tage hat der Mensch Zeit, in sich zu gehen, seine Missetaten zu bereuen, durch gute Werke Sühne zu leisten, einem anderen angetanes Unrecht wiedergutzumachen. Zehn Tage bis zu Jörn Kippur, dem Versöhnungstag, diesem Höhepunkt der Zeit des Schuldbekenntnisses, der Reue, der Tschuwa, der Rückkehr.

Bei Sonnenuntergang, beim letzten Hornstoß des Schofar, des Widderhorns, des uralten Alarmrufs unter den Stämmen Israels in der Wüste, werden die Rollen des Schicksals wieder zusammengerollt.

Was das Neue Jahr für jeden einzelnen bringt, hat der Ewige eingetragen.

Der Duft des zerriebenen Nußblattes auf der flachen Hand, der Duft der Erinnerung an jährlich wiederkehrendes Ernsthaftes, an Anrufung und Rechenschaft, an Rückkehr und Neubeginn. Furchtbringende Tage, ehrfurchtbringende Tage, wahrhaft Hohe Festtage. Scharia towa.

Zerriebenes vom Nußblatt bleibt zwischen den Seiten des Leviticus liegen, als ich das Alte Testament schließe. Religio heißt Rückbindung. Zu Zeiten bekommen wir eine Ahnung davon.

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