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Visionen

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„Der Sitz der Partei ist mei- ne Wohnung", erzählt Lojze Peterle. Er ist Präsident der Christdemokratischen Partei Sloweniens, die vor einem Jahr gegründet wurde. Dieser Tage war er Gast des steirischen ÖAAB bei einem Symposion unter dem Motto „Parteibuch- Zwang oder Freiheit". In sei- nem Referat bemerkte er so nebenbei, daß er Tagebuch führe, und daß er in diesem Tagebuch vor kurzem zwei Erlebnisse festgehalten habe: Die Begegnung mit einem Li- tauer, der 25 Jahre im Gefäng- nis verbracht hatte, davon sechs in Einzelhaft - und die Lektüre eines Zeitungsartikels, in dem vorgerechnet wurde, wie viele Fernsehgeräte und Kraftfahr- zeuge notwendig wären, um den osteuropäischen Standard an Westeuropa anzugleichen.

Und da fragte sich der Präsi- dent der slowenischen Christ- demokraten, wie man denn Geisteswelt und Wirtschaftsin- teressen verbinden könne.

Ein Politiker, der Tagebuch führt, sich um die Geisteswelt Sorgen macht und dann noch den slowenischen Archäologen Stane Gabrovec zitiert, der behauptet, daß sowohl die Ost- ais auch die Westvariante des Turmes zu Babel fragwürdig seien. „Die menschliche Ur- sprache scheint überall ver- wirrt zu sein", sinniert Lojze Peterle.

Aber ist der Turm zu Babel wirklich unser Schicksal oder kann Europa eine gemeinsame Sprache finden, eine neue Auf- fassung von Existenz?

Der ungemein seriös wirken- de Peterle hätte wenig Chan- cen in unserer vom Fernsehen dominierten ritualisierten und theatralisierten Politik. Er überlegt natürlich auch, wie lange der Mut und der Idealis- mus in seinem Land dauern werden. Er weiß, daß es sich jetzt um eine Aufbruchstim- mung handelt, aber er ist unsi- cher, ob das, was jetzt im ein- stigen Ostblock geschieht, nicht nur eine „phasenverschobene Entwicklung des zivilisato- risch-kulturellen Zyklus ist".

Das heißt: Diese Völker machen etwas durch, was die westlichen Demokratien schon absolviert haben. Peterle aber fragt sich, was nachher kommt - nach dem schwedischen Modell, in dem jedem bei der Geburt gleich der Sarg bezahlt wird. Er meint, die Sehnsucht nach Geist werde wieder kom- men. Er meint, Visionen wür- den wieder gefragt sein, Visio- nen von neuen Strukturen, von einem neuen Menschsein.

Nur im Dienst dieser Sache habe das Parteibuch seinen Sinn, erläutert Lojze Peterle.

„Alle Politik hebt beim Men- schen an", heißt es bei Her- mann Broch.

Eine Erkenntnis, die immer wieder in Vergessenheit gerät und daher immer wieder in Erinnerung gerufen gehört.

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