6844364-1976_10_09.jpg
Digital In Arbeit

Wer wirft den ersten Stein ?

Werbung
Werbung
Werbung

In unserer Zeit einer Überbewertung der Sexualität darf es nicht verwundern, wenn auch oder gerade die Medien sich damit in ungewöhnlichem Maß befassen; besonders im Film ist dies Thema Nr. 1 — meist in sehr spekulativer und noch häufiger zusätzlich noch in geschmackloser Form; um so mehr und angenehmer fällt auf, wenn es dann einmal einen Film gibt, der das Thema käuflicher Liebe in seriöser und dezent-geschmackvoller Form behandelt. Diese Woche sind es gleich

zwei — und über beide sollte man sprechen: wenn unter lauter mißratenen Früchten eine gute ist, wird man auf sie hinweisen, auch wenn sie nicht Edelqualität besitzt. Doch wer hätte von einem schlechten Baum überhaupt dergleichen erwartet?

Die 1858 in Maastricht/Holland geborene, für den Literaturnobelpreis und den „Goncourt“ vorgeschlagene Schriftstellerin Neel Doff — die dann später nach Belgien heiratete und 1942 in Brüssel starb — schrieb als ihr Hauptwerk eine autobiographisch empfundene, von Zola beeinflußte Romantrilogie über ein Landmädchen in den Niederlanden des endenden 19. Jahrhunderts („Keetje“, „Tage des Hungers und der Not“ und „Keetje als Laufmädchen“), das mit der Familie nach Amsterdam zieht und dort unter erbärmlichen Verhältnissen — auch als Prostituierte aus Not — lebt, bis es von einem reichen Mann geheiratet wird. Paul Verhoe-ven schuf aus dem berühmten sozialkritischen Werk einen aufwendigen Film, der in krassestem Naturalismus ein Zeitbild schildert, das in jeder Beziehung glaubhaft und dadurch erschütternd wirkt; großartig ist die junge Monique van de 'Ven als „Das Mädchen Keetje Tippel“, das in aller Unschuld trotz aller Er-

lebnisse ein Mensch bleibt, hervorragend sind Zeit und Milieu getroffen. Kein erfreulicher, im Gegenteil, ein drastischer und schockierender Film — aber als Zeitdokument bemerkenswert (und keinesfalls mit der „Mutzenbacher“ auf eine Stufe zu stellen!).

Und ein französischer Film erzählt in komödiantischer, niemals den guten Geschmack verletzender Form (welch Gedanke, die Deutschen hätten das Thema verfilmt!) von einem etwas konservativ-gutgläubigen Provinzindustriellen, der in Paris bei einem Geschäftsabschluß auch mit der „Nichte“ des Werbechefs bekannt wird, in die er sich verliebt — und, naiv, wie er ist, keine Ahnung davon hat, daß derlei Tricks heute zum Gelingen von Geschäften üblich sind ... „Das Kätzchen“ von Edouard Molinaro gleichzeitig flott und charmant, aber auch hintergründig und ernsthaft inszeniert, zeigt eine doppelte Wandlung: den Schritt des provinziell-bürgerlichen Geschäftsmannes vom 19. in das 20. Jahrhundert — und die des Mädchens Christine von der Verführerin zur Liebenden: „Daß gerade mir das passieren muß!“ sind die letzten erklärenden Worte dieser Komödie, die ein heikles Thema vorbildlich löst...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung