"Das Leben behalten, das Lachen verlernt"

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Am 12. März 1945 starben Zehntausende bei einem Bombenangriff auf die deutsche Hafenstadt Swinemünde. Die Leichen wurden zum nahen Berg Golm gekarrt, der bis heute ein Berg des Anstoßes geblieben ist.

Grau und kalt wird der kleine Berg daliegen und durch kahle Äste werden die Schemen einer Stadt zu sehen sein - Swinemünde, Swinojuscie. Dahinter das Meer. Gedämpft wird ein Trauermarsch erklingen und vom Wind nach drüben, nach Polen getragen werden. Mehrere hundert Menschen werden stehen, zwischen einzelnen Kreuzen, stumm und alt, Blumen in den Händen. Am 12. März 2005, Gedenkstätte Golm, Usedom.

Als am selben Tag vor 60 Jahren mittags ganz in der Nähe die Sirenen heulten, dachte niemand, es würde Swinemünde treffen. Immer waren die Flugzeuge nach Stettin weitergezogen. Doch nach anderthalb Stunden stand kein Bauwerk mehr in der Stadt. "Am 12.03.1945", schrieb später ein Überlebender ins Gästebuch der Gedenkstätte, "habe ich die Jugend verloren - mein Leben behalten - das Lachen verlernt."

"Wir hatten es nicht mehr in den Bunker geschafft und das hat uns gerettet. Sonst wären wir verschüttet worden", erinnert sich Hannelore Jungnickel, die als Zehnjährige das Bombardement überstand. Swinemünde, das "Dresden des Nordens". Tausende hat es ohne Schutz getroffen. Sie hatten in den Straßen und auf Schiffen auf die Weiterfahrt Richtung Westen gewartet. Die Bilder brannten sich in die Erinnerung ein: "Überall lagen Leichen. Die Metzgersfrau hat es zerfetzt. Im Hausflur schrie ein Mann ...", Hannelore Jungnickel bricht das Gespräch ab, dreht den Kopf weg.

Einen Steinwurf weit lebt sie heute von Swinojuscie entfernt. Vor dem Krieg ging sie zu Fuß zu den Großeltern in die Stadt. Nach dem Krieg war die deutsch-polnische Grenze dazwischen. Als im März 1945 die Toten zum Golm gleich am Fuße von Hannelore Jungnickels Dorf Kamminke gebracht wurden, ahnte niemand, dass bald die Grenze die Toten von ihren Angehörigen trennen würde. Man karrte die Leichen hierher, weil der Stadtfriedhof sie nicht fassen konnte. "Es dauerte Monate, bis alle beerdigt waren", sagt Jungnickel. Schnell gab der Pfarrer einzelne Begräbniszeremonien auf und überließ die Toten namenlosen Massengräbern.

Ausflugsziel wurde Friedhof

Da war das Lachen am Golm verstummt. Keine Musik lud mehr zum Tanz, kein Bier wurde mehr gezapft, kein Picknick mehr veranstaltet. Der Hügel bei Swinemünde, über 100 Jahre lang beliebtes Ausflugsziel, wurde zu einem der größten Kriegsgräberfriedhöfe in Deutschland.

Als er klein war, schlenderte Edmund Kracht am Sonntags mit der Mutter durch die Felder hin zum Golm - damals, vor dem Krieg. Dort war das Bahnhäuschen seines Großvaters. Da gab's eine Schaukel und einen Aussichtsturm vor der Gaststätte "Onkel Thoms Hütte". Da saßen die Besucher aus Berlin und Swinemünde. "Manchmal bekamen wir eine Rolle Drops oder eine Brause", erinnert sich der 73-Jährige. Heute sind nur die Fundamente des Restaurants als stumme Zeugen vom Ausflugsberg der Swinemünder übrig geblieben.

Bei seinem ersten Besuch des Friedhofs kurz nach Kriegsende war Kracht 16 Jahre alt. "Ich war erschüttert von dem Anblick: Da sahen wir Fetzen von Kleidung und einen Kinderschuh. Die Kreuze lagen umgekippt, und Wildschweine hatten die Gräber zerwühlt." In seinen Tagebuchaufzeichnungen fragte sich der junge Kracht, ob das je wieder in Ordnung kommen würde.

Heute sind in der Gedenkstätte Golm immer wieder Schülergruppen anzutreffen. Sie lesen Namen auf Bronzetafeln und schauen zu den verschiedenen Kreuzen am Hang. Bei der "Frierenden", Symbol des Friedhofs, bleiben sie stehen. Bildhauer Rudolf Leptien hatte seine Erinnerungen an eine Flüchtlingsfrau in Stein gemeißelt. "Die Frierende", das Gesicht voll stummer Resignation, drückt sich tief in einen Soldatenmantel. Neben dem Mahnmal wartet Otto Simon von der Interessengemeinschaft Gedenkstätte Golm auf die Schüler. Mit weiter Geste zeigt der ehemalige Pastor um sich und sagt: "Hier ist der Wandel der deutschen Geschichte mit all seinen Höhen und Tiefen zu spüren." Die Historie des Golms ist vielfältig, seine Grenzlage konfliktreich.

"Warum, Mutti ...?"

Die ddr-Regierung gestaltete die Gedenkstätte. Doch wurden Flucht und Vertreibung auf dem Golm zu ddr-Zeiten nirgends erwähnt und das Gedenken parteilich gelenkt. Denn Polen war Bruderland. Und schon zwei Generationen nach dem Krieg war die Grenze Grenze und Swinojuscie seit jeher polnisch. "Warum, Mutti", konnte man damals am Golm Fragen hören, "liegen Polen auf einem deutschen Friedhof?"

1989 fiel mit der Mauer auch die Grenze der Swinemünder Geschichte. Als sich niemand mehr für den Golm zuständig fühlte, übernahmen Anwohner ehrenamtlich die Pflege. Für Otto Simon, Hannelore Jungnickel und Edmund Kracht ist der Golm seitdem zum Lebensinhalt geworden. "Wir wollen eine Gedenkstätte jenseits ideologischer Grenzen", schildert Simon ihr Anliegen.

Aufmarsch der Neo-Nazis

Über 30.000 Menschen besuchen inzwischen jährlich den Golm. Erschüttert und nachdenklich gehen sie wieder weg. "Denn hier schweigen die Toten nicht", sagt Simon. Und hier, im Anblick der Grenze, werde nach historischer Wahrheit gerungen, nach der Interpretation von Geschichte. Das Gästebuch der Gedenkstätte verzeichnet viele solcher Begegnungen. So schreibt Elmar Maier vom Rhein: "Der Golm braucht im neuen Europa keine Grenze mehr zu bleiben, sondern könnte zu einer Brücke werden." Hartmut Koeppel aus Duisburg dagegen spricht vom "Massenmord der Alliierten" und meint: "Um so bedrückender ist der Umstand, in unmittelbarer Nähe die Aufrechterhaltung polnischer Vertreibung und Massenverbrechen sehen zu können, deren Wiedergutmachung keine Bundesregierung zu fordern gewagt hat."

Heute sind am Golm auch Worte zu hören, die lange undenkbar schienen. Der Wegfall der Grenzen brachte auch Freiheiten mit sich, mit denen schwer umzugehen ist. Denn nun marschieren auch alte und neue Nazis und legen Kränze nieder. Mehr als 200 von ihnen kommen alljährlich zum Volkstrauertag. Sie sammeln sich, formieren sich in Reih und Glied, gedenken still und gehen wieder. Nichts wird beschädigt oder beschmiert, kein Hitlergruß gezeigt, keine Fahne geschwenkt. Die Polizei: machtlos; die Anwohner: ohnmächtig.

Doch die Nazis gewonnen?

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, öffentlicher Träger des Golm, sieht sich rechtlich nicht in der Lage, gegen die Neo-Nazis einzuschreiten und schloss ein Abkommen mit den lokalen Medien, über die Aufmärsche nicht zu berichten. Doch totschweigen lässt sich das Problem nicht. Schon allein wegen der Kränze mit Aufschriften wie: "Ein Volk, das solche Helden hat, ist zum Siege bestimmt" - "Das heißt doch, die haben gewonnen, oder", fragt sich angesichts solcher Parolen verbittert ein Anwohner.

So tut sich seit 60 Jahren jeder schwer mit dem Hügel, mit dem Friedhof. Die liebliche Landschaft verdeckt kaum die Berührungsängste mit der eigenen Geschichte, die hier immer wieder aufbrechen. "Doch heute ist der Golm ein Platz des Dialogs zwischen Ost und West, Polen und Deutschen, Alt und Jung, Rechts und Links", sagt Otto Simon. So will er den Golm verstanden wissen, auch wenn es sehr schwer fällt, aber: "Der Golm soll dem Gedenken an die Gräueltaten einen öffentlichen Raum geben, jenseits von Ressentiments, Rassismus, Nationalismus oder Hass."

Die Autorin ist freie Journalistin.

Weitere Info: www.golm-usedom.de

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