Schwielen vom Töten

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Nach zwei Büchern über die Opfer der Balkankriege wendet sich Slavenka Drakulic´ den Tätern zu und erschrickt: Sie sind "Menschen wie wir".

Als DrazÇen auf seine Uhr sah, war er schockiert: Sie hatten nur fünfzehn Minuten gebraucht, um mehr als sechzig Menschen zu töten!" Nach der ersten Viertelstunde Erschießungsarbeit folgte eine zweite, eine dritte, eine vierte ... - an diesem Tag in Srebrenica erschossen von zehn Uhr vormittag bis drei Uhr nachmittag zehn serbische Soldaten 1.200 bosnische Muslime. Nach dem Exekutionskommando wollte DrazÇen sich duschen, den Todesgeruch abspülen oder wenigstens die Hände waschen. "Sie waren nicht blutig, nur am rechten Zeigefinger war eine Schwiele. Eine rosige, runde Schwiele. Seltsam, dachte er, vom Töten Schwielen zu bekommen."

Gibt es kollektive Unschuld?

"Keiner war dabei", nennt die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakuli´c die deutsche Übersetzung ihres Buches über die Kriegsverbrechen auf dem Balkan und ihre Aufarbeitung vor Gericht - der Titel stimmt nicht ganz: DrazÇen Erdemovi´c war dabei, und er hat vor dem Kriegsverbrechertribunal gestanden, dass dieser Tag in Srebrenica "sein Fluch war". Und Biljana PlavsÇi´c war dabei - auch die frühere Spitzenpolitikerin der Republika Srpska hat sich in Den Haag schuldig bekannt, dass Tausende unschuldige Menschen ihrer Politik geopfert wurden. Doch die beiden und wenige andere sind Ausnahmen. In Serbien und Kroatien gelten sie als Verräter. Aber "was ist mit den anderen, die eine Ideologie übernahmen, welche 200.000 Opfer forderte?" fragt Drakulic´ und macht den Umkehrschluss: "Wenn es wahr ist, dass es keine Kollektivschuld gibt, kann es dann eine kollektive Unschuld geben?"

Der aktuelle Band ist Drakulic´s drittes Buch über die Balkankriege. Seit zehn Jahren versucht sie schon zu verstehen und anderen zu erklären, wie es zum Krieg gekommen war und "wie er die Menschen um mich und mich selbst verändert hat". Zur Abwechslung hätte sie gerne etwas anderes geschrieben, "aber meine Gedanken kehrten immer wieder zum Krieg zurück." Die Autorin gehörte nach Titos Tod zu dessen verlorenen jugoslawischen Kindern - das prädestiniert sie, einen authentischen Einblick in das explosive Gemenge am Balkan zu geben, das zu den Balkankriegen führte. Aber Drakulic´ gelingt auch ein Ausblick - auf das, was Not tun würde am Balkan, damit die bösen Geister der Vergangenheit nicht aufs Neue die Gegenwart beherrschen.

Ihre beiden früheren Bücher hat Drakulic´ aus der Perspektive der Opfer geschrieben - dieser Band befasst sich mit den Tätern. Fünf Monate ging sie als Prozessbeobachterin nach Den Haag. Sie verfolgte die Verhandlungen, besuchte Angeklagte im Gefängnis, und "je besser man sie kennenlernt, desto mehr wundert man sich, wie sie diese Verbrechen begehen konnten - diese Kellner und Taxifahrer, Lehrer und Bauern". Mit wenigen Ausnahmen sieht Drakulic´ die Kriegsverbrecher vom Balkan als "Menschen wie wir" und erschrickt: "Wenn normale Menschen Kriegsverbrechen begingen, dann heißt das, dass jeder von uns sie begehen könnte."

Grausamer Scherzbold

Eine Ausnahme macht Drakulic´ bei Slobodan MilosÇevic´: "Lügen haben kurze Beine", sagte MilosÇevic´ zu einem Zeugen, als Drakulic´ im Publikum saß. Der Angesprochene hatte kurze Beine, weil sie ihm amputiert worden waren. Publikum, Richter, der ganze Saal waren über diesen grausamen Scherz entsetzt - "erstmals begriff ich eine Definition des Bösen, die ich vor langer Zeit gelesen hatte", schreibt Drakulic´: "Das Böse ist die Abwesenheit von Mitgefühl."

KEINER WAR DABEI

Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht. Von Slavenka Drakulic´

Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004

197 Seiten, geb., e 17,90

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