Unglückliche Ersatzgottheit

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Furche Nr. 33/14. August 1962

Johann Boeck über die Reaktionen auf den Tod Norma Jean Bakers, genannt Marilyn Monroe, am 5. August 1962.

Keine Nachricht aus der Filmwelt hat seit dem Tod von James Dean ein Echo von solcher Intensität ausgelöst, wie die vom Tode Marilyn Monroes. Dies geschah auf eine Weise, die darauf schließen läßt, daß ihr Sterben eine Kettenreaktion von Emotionen auslöste, die in keiner rational faßbaren Relation zu ihrer Bedeutung als Mensch und als Künstlerin stehen, dafür aber um so symptomatischer für bestimmte Aspekte der geistseelischen Situation unserer Zeit sind. [...]

Welchen Einfluß diese erste, auf keiner geistigen oder persönlichen Leistung beruhende Blitzkarriere [als Pin-up-Girl} auf die junge Frau hatte, ist nicht leicht abzuschätzen. Sicher ist jedoch, daß diese kleine Schilderhebung zum Pin-up-Idol der Massen, betrachtet man die dahin führenden Selektionsvorgänge ..., nicht auf die einmalige, unverwechselbare Persönlichkeit eines Menschen abzielte, sondern auf ein seelisch wie geistig leeres Modell des Sexy-Hexy-Typs. Das heißt, daß der hinter diesem Modell stehende Mensch, durch Make-up und Art der Photographie in Gestalt, Farbe und Kontur des vorgefaßten Modells hineingepreßt, an sich durch jede beliebige, diesen Vortsellungen entsprechende Person austauschbar war. [...]

Am Morgen des 5. August wird sie, neben sich leere Phiolen eines starken Schlafmittel, tot auf ihrem Lager gefunden ... Die Massen ebenso wie die Kommentatoren, gleich betroffen, reagieren gleichartig. Aus der Erkenntnis, hier sei ein Mensch restlos überfordert und vergewaltigt worden, wurde sofort ... allein die Selbstmorthese akzeptiert, was dem sicheren Gefühl für den Menschenverschleiß, den unsere Zivilisation auf ihrem gegenwärtigem Stand betreibt, entspricht. Und zweitens ... wird ein Sündenbock gesucht und (auch das ist typisch) nicht in Einzelmenschen, sondern in einem letzlich anonymen Apparat, in Hollywood als einem Machtkörpermodell unserer Zeit par excellence, gefunden.

All dies stellt nichts anderes als die Flucht vor der Grundtatsache dar, daß unser Geschlecht im Bann der Pseudo- und Ersatzgottheiten steht, die es, in tiefster Seele unbefriedigt instinktivem Drängen blindlings gehorchend, am laufenden Band aufstellt und wieder zerstört ... Derartige Erscheinungen als zu Zeitwenden gehörig zu erkennen, muß nicht heißen, sich mit ihnen abzufinden, sondern durch sie herausgefordert, um so kraftvoller nach Verbindung mit der ewigen Wahrheit zu trachten. So gesehen wollen wir in Furcht und Mitleid unser Haupt vor dem Grab Norma Jean Bakers entblößen, die in den ihrem Tod vorangegangenen Tagen einer der unglücklichsten Menschen der Welt war: als Opfer einer Epoche, die aus ihren Konvulsionen mit herauszuhelfen, gleich wo er stehen mag, jeder aktive Geist aufgerufen ist.

Nächste Woche: furche 1963 über den jungen Peter Patzak.

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