GESCHICHTEN DER UNEINIGKEITEN

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Wer ist grausamer, der Mensch oder Gott? Man könnte José Saramagos letzten Roman "Kain" auch als Wettstreit um diese Frage lesen. Wer ist grausamer: Gott, der ohne Rücksicht auf unschuldige Kinder ganze Städte in Schutt und Asche legt, oder der Mensch, der sogar noch in Gottes rettender Arche mordet? Die Geschichte von Mensch und Gott, wie sie Saramagos Version der Kainsgeschichte erzählt, ist eine Geschichte der Uneinigkeiten: "weder versteht er uns, noch verstehen wir ihn." Selbst wenn es am Ende des Romans nur mehr drei Protagonisten gibt, Gott, Kain und den Erzähler, der beschließt, dass es nichts mehr zu erzählen gibt: Die Geschichte der Uneinigkeiten dauert an.

Seit dem 11. September 2001 sind zahlreiche literarische Werke erschienen (Forderungen nach "dem 9/11-Roman" sind ebenso unsinnig wie jene nach "dem Wenderoman"), die sich mit den Folgen von 9/11 auseinandersetzen: Jonathan Safran Foer schrieb einen Trauerroman, Claire Tristram einen Roman über die Definition des Individuums durch Religionszugehörigkeit und den gewalttätigen Umgang miteinander. Thomas Lehrs Roman "September, Fata Morgana", einer der interessantesten deutschsprachigen Beiträge zum Thema, verwebt die vorgeblichen Gegensätze der Kulturen und Religionen auch poetisch.

Die Themen Religion und Gewalt aber sind, wie Saramagos biblisches Beispiel zeigt, älter als 9/11. Und Literaten haben sich seit jeher daran abgearbeitet. Auch im neuen Roman des Literaturnobelpreisträgers Mario Vargas Llosa "Der Traum des Kelten", der das Leben des Iren Roger Casement nacherzählt, spielen sie ihre Rollen. Casement, über den W. G. Sebald in den "Ringen des Saturn" einen großartigen Essay verfasst hat, berichtete Anfang des 20. Jahrhunderts von den Gräueltaten im Kongo und im Amazonas. Joseph Conrad lernte ihn im Kongo kennen und verdankte ihm Einblicke in das Grauen, in das dann auch sein "Herz der Finsternis" führte.

Der Faden des Seidenwurms

1230 Seiten Erinnerungen an Tote, Erzählungen über Kindheit und Großvater, Reflexionen über Kulturen und Religionen, Jean Paul und das Schreiben, das Sterben und den Tod: Navid Kermanis neuestes Buch "Dein Name" hat das Zeug, seine Leser über Jahre begleiten zu können. Ein Gedenken widmet Kermani dem palästinensischen Dichter Mahmud Darwisch. Dessen Lyrik lässt sich auch als Aufruf lesen, die Humanität zu bewahren: "Auch wir lieben das Leben, wo wir nur können, / Wir tanzen zwischen zwei Märtyrern, stellen zwischen den Märtyrern ein Minarett auf für die Veilchen oder eine Palme. / Wir lieben das Leben, wo wir nur können, / Und stehlen dem Seidenwurm einen Faden, einen Himmel zu errichten und den Aufbruch zu umzäunen."

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