Sündenbock für alles

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In seinem neuen Buch bringt der Innsbrucker Theologe Wolfgang Palaver die zentralen Theorien René Girards "auf den Punkt".

Ein einsames Jagdschloss am Fuß der Karpaten: Im Salon mit seinen abblätternden Seidentapeten wartet ein alter Mann auf seinen Jugendfreund, mit dem er noch eine Rechnung offen hat: Was hat sich vor 41 Jahren zwischen seiner Ehefrau und seinem Freund abgespielt? Wie kam es, dass aus einer unzertrennlichen Männerfreundschaft eine Rivalität wurde, die fast einen tödlichen Ausgang genommen hätte?

Für jeden und jede, die sich mit den zentralen Thesen des franko-amerikanischen Literatur- und Kultur-Wissenschafters René Girard beschäftigt haben, ist der Erfolgsroman "Die Glut" von Sándor Márai ein klarer Fall von "mimetischem Begehren". Wer noch nicht weiß, was mimetisches Begehren ist, sollte Girard-Kenner Wolfgang Palavers Buch "René Girards mimetische Theorie" konsultieren. Dann ist klar: Der Mensch imitiert das Begehren anderer, sprich: Ein Mann will genau die Frau, die sein Freund auch will.

Begehren schafft Gewalt

Dieses "mimetische oder nachahmende Begehren" ist letztlich Ursache der Gewalt zwischen Menschen - nicht nur bei Dreiecksgeschichten in der Literatur, sondern auch in der Weltpolitik sowie beim Streit mit dem bösen Nachbarn. "Mimetisches Begehren" lautet also die eine Zauberformel in Girards Denkgebäude, "Sündenbockmechanismus" die andere. Die Gewalt aller gegen alle endet mit der Zusammenrottung aller gegen eine(n): den Sündenbock. Sein Opfertod versöhnt die verfeindeten Gegner miteinander. Dieses Ereignis steht am Ursprung aller Gesellschaften, Zivilisationen und archaischer Religionen. Erst die biblischen Religionen und hier vor allem das Christentum können den Sündenbockmechanismus entlarven und damit überwinden.

Angesichts der Zitatenlawinen Girards aus Weltliteratur, Philosophie, Ethnologie und Theologie, die schon so manchen Leser unter sich begraben haben, ist das Herausfiltern solch großer Zusammenhänge aus seinem Werk eine echte Hilfe. Wolfgang Palaver, Professor für Christliche Gesellschaftslehre am Institut für Systematische Theologie der Universität Innsbruck, hat über zehn Jahre daran gearbeitet, die zentralen Thesen Girards auf allgemein verständliche Weise zu vermitteln. Er kann die Dinge "auf den Punkt bringen" - ein Versprechen, das häufig vorkommt und auch eingelöst wird. Das macht Girard zwar nicht gerade zur leichtverdaulichen Kost, erleichtert aber den Zugang zu seiner Universaltheorie, die den Schlüssel für so ziemlich alle Undurchsichtigkeiten dieser Welt liefert: Terrorismus und Religion, Todesstrafe und Blondinen.

Palaver wendet die Girard'sche These auf heutige politische und ökonomische Konstellationen an, was spannend ist. Kritik an Girards Theorien darf man freilich nicht erwarten. Sie wird schnell abgeschmettert oder von vornherein abgewehrt. Als wissenschaftlicher Überblick über Girards Gesamtwerk ist Palavers Buch aber sehr zu empfehlen.

RENE GIRARDS MIMETISCHE THEORIE. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen. Von Wolfgang Palaver, LIT Verlag Münster 2003, brosch., 456 Seiten, e 22,90

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