Vom guten und vom bösen Trieb

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So wie Gott den guten Trieb schuf, so schuf er auch den bösen Trieb, damit die Menschen die Möglichkeit und die Verantwortung haben, zwischen beiden zu wählen. Ein oder zwei Belege für die Vorstellung finden sich in der jüdischen Literatur der römischhellenistischen Zeit, zum Beispiel wenn Sirach sagt: "Er hat am Anfang den Menschen erschaffen und ihn der Macht der eigenen Entscheidung überlassen". Im hebräischen Text des Sirach-Buches steht für "Entscheidung" jetzer, im Griechischen: diabole "Verleumdung" - von dem selben Wort stammt diabolos "der Verleumder", der im Christentum die Bedeutung "Teufel" erhält.

Es war das rabbinische Judentum, das diese Vorstellung vollständig entwickelt hat, vor allem in Hinblick auf den bösen Trieb, jetzer ha-ra. In der Tat, wenn das Wort jetzer alleine benutzt wird, bezieht es sich in der Regel auf den bösen Trieb. Doch der jetzer ha-ra ist nicht an sich böse. Das ist eine klare Folge aus den wichtigsten rabbinischen Lehren über dieses Thema. Zum Beispiel erreicht die Schöpfungsgeschichte ihren Höhepunkt in der Erschaffung der Menschen. An dieser Stelle sagt der Text: "und siehe, es war sehr gut". Hier wird das logisch überflüssige Wort "und" als Hinweis darauf verstanden, dass die Menschen mit zwei Trieben geschaffen wurden, einem guten und einem bösen, die Aussage "sehr gut" beziehe sich auf beides. "Aber", fährt der Midrasch fort, "kann der böse Trieb 'sehr gut' genannt werden? Das wäre erstaunlich!" Und dann erklärt er: "Gäbe es diesen Trieb nicht, würde niemand ein Haus bauen, heiraten, Kinder zeugen oder geschäftliche Interessen verfolgen".

Aber wenn er nicht durch ein waches Gewissen kontrolliert wird, kommt er schnell dahin, anderen Schaden zuzufügen. Weil er uns so oft dazu treibt, das Falsche zu tun, ist der jetzer ha-ra böse.

Der Autor ist Rabbiner und leitet das Abraham-Geiger-Kolleg an der Universität Potsdam

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