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Volha Hapeyevas "Samota": Eine Frage der Empathie

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Die belarusische Autorin Volha Hapeyeva plädiert in ihrem Roman „Samota“ für einen anderen Umgang des Menschen mit der Natur.

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Die belarusische Autorin Volha Hapeyeva plädiert in ihrem Roman „Samota“ für einen anderen Umgang des Menschen mit der Natur.

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Wir haben den Bezug zur Natur verloren. Das ist gewiss keine ganz neue Erkenntnis. Schon seit Jean-Jacques Rousseau schallt der Ruf „Zurück zur Natur“ durch das aufgeklärte Europa. Der französische Ordenspriester, Mathematikprofessor und Philosoph Nicolas Malebranche (1638–1715), der sich seinerseits auf René Descartes berief, zeigte sich in seinem Traktat „Von der Erforschung der Wahrheit“ (1674/75) davon überzeugt, dass „Tiere weder einen Verstand noch eine Seele haben“. Der Mensch galt den Aufklärern als „das Maß aller Dinge“, bevorzugt der reiche weiße Mann. Die Folge davon war eine wachsende Empathielosigkeit gegenüber der belebten Natur, speziell gegenüber Tieren – und damit die Naturausbeutung. Die Entfremdung des Menschen von der Natur machte erst „die industrielle Tierquälerei, die sich in Europa ausgebreitet hat“, möglich, wie die Protagonistin in Volha Hapeyevas Roman „Samota“ sagt, und sie führt sie auf „Selbstliebe und Grausamkeit mittels Wissenschaft“ zurück.

Helga-Maria, so ihr Name, ist Tierpsychotherapeutin, Autorin von Prophezeiungen für Glückskekse, und sie hält Vorträge gegen Tierversuche, denn: „das Geschick der Menschenkinder und das Geschick des Viehs ist ein und dasselbe“, wie es in der Bibel (Prediger 3,19) heißt. Dass sich der Roman trotz dieser Thematik nicht als Tierschützeressay geriert, verdankt er seiner Literarizität. Denn eingebettet ist dieses Plädoyer für einen anderen Umgang des Menschen mit Fauna und Flora in eine in magischen Realismus getauchte, zum Teil surreale Geschichte.

Am Beginn des Romans trifft eine Ich-Erzählerin, die später ihren Namen, Maja, preisgibt, in einem Hotel des Instituts für Vulkanologie in Japan auf Helga-Maria. Die unübliche Zusammensetzung des Doppelnamens lässt an eine Verbindung zwischen nordischer und orientalischer Welt denken – und damit an eine innere Zerrissenheit. Beim Namen Maja wiederum summt sofort eine Biene im Kopf. Rastlos wie eine solche schwirrt die Erzählerin auch durch Zeiten und Orte. Den Gegenpart zu diesen um das Tierwohl besorgten Freundinnen bildet eine Figur namens Mészáros, auf Deutsch: Fleischer. Er ist an einen ungenannten Ort gekommen, um Wölfe zu töten, aber nicht mit der Flinte, sondern um sie „nach der Walewski-Methode“ mit Strychnin zu vergiften. Einem Journalisten schildert der „Finsterling“ das aufwendige Verfahren dieser unüblichen Art des Tötens. Sein Motiv ist dabei nicht Jagd- oder Mordlust, sondern Konkurrenzdenken: Der Wolf ist für ihn ein Konkurrent, der auszurotten ist. Mészáros lebt in einer Welt, in der „man nie genug bekommen“ kann. Er darf somit – im Sinne des Papstwortes, dass „diese Wirtschaft tötet“ – als Repräsentant des Turbokapitalismus mit seiner Naturzerstörung gelten.

Untergebracht ist der unfreundliche Mann bei einem Herrn namens Zikade. Zikaden, so das Tierlexikon, sind harmlose Insekten, die leicht mit Grillen oder Heuschrecken verwechselt werden. Der Quartiergeber ist jedenfalls einer, der seine Natur verbergen muss. Im Nebenzimmer des Herrn Mészáros wohnt Sebastian. Als wir auf ihn treffen, schreibt er gerade einen Liebesbrief an Helga-Maria, den ihr Herr Zikade im letzten Kapitel des Romans übergeben wird. Dazwischen ereilt Sebastian das Schicksal jenes frühchristlichen Märtyrers, dessen Namen er trägt. Damit schließt sich der Kreis.

Die nomadische Lebensweise der Autorin fließt in ‚Samota‘ literarisiert ein, in Form der Auflösung von Strukturen, Sicherheiten und Gewissheiten.

Wobei der Roman der 1982 in Minsk (Belarus) geborenen Autorin, Übersetzerin und Linguistin weniger einen Kreis als ein Labyrinth beschreibt. Es sind räumlich, zeitlich, stilistisch, sprachlich verschlungene Wege, auf die Volha Hapeyeva ihr Publikum mitnimmt. Das hat vermutlich auch mit der Biografie der exilierten Autorin zu tun. Denn just zu der Zeit, als die Protestmärsche gegen die Wahlmanipulationen bei der Präsidentschaftswahl in Belarus losbrachen (2020), war sie Stadtschreiberin in Graz. Eine Freundin riet ihr dringend davon ab, zurückzukehren; obwohl sie zu diesem Zeitpunkt bereits zehn Bücher– vorwiegend Lyrikbände – in ihrem Heimatland veröffentlicht hatte. Nun begann also ihre Odyssee, die sie zuerst an den Starnberger See führte, dann nach Krems, danach nach München und so weiter, stets Stipendien hinterher. Seither spricht Volha Hapeyeva von ihrem nomadischen Leben.

Und dieses spiegelt sich in gewisser Weise auch in ihrem Roman wider: Geradlinig ist darin gar nichts. Sie wechselt darin Sprache, Stil und Motiv wie ihre Aufenthaltsorte. Sosind in die Kerngeschichte rund um die Wolfsjagd einige Nebenerzählungen verwoben, die bei der Lektüre auf mythologische, philosophische, religiöse, literarische Abwege leiten. Einen Ariadnefaden stellen dabei die Hundegeschichten dar. So wird Maja etwa auf eine Anzeige an einem Mast aufmerksam, auf der nach einem vermissten Hund gesucht wird. Auf einem der drei Fotos, die auf der Meldung abgebildet sind, sieht man den Hund in einem Rudel. Beim Betrachten dieses Bildes denkt sich Maja, dass „es dort, von wo er weggelaufen war, noch viel schlimmer gewesen [sei] als hier in diesem Rudel“.

Zu Hunden hat Maja einen starken Bezug, war doch ein Hund namens Kassawur oder Kosja schicksalsbestimmend für ihr Leben. Dieser Begleiter ihrer Kindheit verschwand während einer Reise nach Japan, die die Familie wegen eines Vulkanausbruchs abbrechen musste. Von da an nahm das Schicksal seinen Lauf, Schweigen breitete sich in der Familie aus, bis auch ihr Vater eines Tages verschwand. Kassawur ist der heimliche Grund sowohl ihrer Vulkanstudien als auch ihrer Japan-Reise. Das Verschwinden von Tieren, die mutmaßlich gequält wurden, beschäftigt auch Helga-Maria. So therapiert sie einen Hund namens Isamu, was auf Deutsch Mut, Tapferkeit bedeutet. Der leckt sich ständig die rechte Seite, was Helga-Maria auf eine Angststörung schließen lässt.

Es passiert also eine Menge seltsamer Dinge in diesem Buch. Man erfährt zum Beispiel auch von Kühen, die sich in einem Schweizer Gebirgsdorf von einer Felskante hundert Meter in die Tiefe gestürzt haben. Selbstmord von Kühen? Für Maja ein Anlass, sich zu fragen, „wo deine Realität endet und die Realität des Unerklärlichen beginnt“. Genau darum geht es in diesem Buch. Wer sich eine weitere „Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils“, wie ein vielbeachteter Essay Hapeyevas von 2022 heißt, erwartete, wird überrascht sein. Denn ihre nomadische Lebensweise fließt in „Samota“– was übrigens Einsamkeit heißt – literarisiert ein, in Form der Auflösung von Strukturen, Sicherheiten und Gewissheiten. Eine heilsame poetische Verunsicherung.

Samota Cover - © Samota Cover
© Samota Cover
Literatur

Samota

Die Einsamkeit wohnte im Zimmer gegenüber
Roman von Volha Hapeyeva
Aus dem Belarusischen von Tina Wünschmann und Matthias Göritz
Droschl 2024
192 S., geb., € 25,–

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