Die beste Zeit im Leben?

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Hugh Cunningham schrieb eine Geschichte des Kindes in der Neuzeit.

Kindheit selbst kann nicht gepriesen werden, lediglich ihr Potenzial, meinte vor 2000 Jahren der Römer Cicero. Die Antike sah Kindheit als Defizit-Zeit. Im 18. Jahrhundert behauptete Jean Jacques Rousseau als erster: "Kindheit könnte die beste Zeit im Leben sein." Wo stehen wir heute? In einer Flut von Ratgeberliteratur. Das neue Buch von Hugh Cunningham, Die Geschichte des Kindes in der Neuzeit, ist der Versuch einer Standortbestimmung in verwirrender Zeit.

Der britische Historiker zeigt in einem Längsschnitt, was sich zwischen Eltern und Kindern, Kindern und Gesellschaft, Kindern und Staat in der europäischen Geschichte des letzten halben Jahrtausends verändert hat. Nebenbei räumt er mit "Forschungs-Märchen" auf. Lange galt ja als ausgemacht, dass - bedingt durch die hohe Kindersterblichkeit (in Europa starben noch 1850 von 1000 Neugeborenen 340 (!) - Eltern eine emotionale Distanz zu ihrem Nachwuchs hielten. Cunningham belegt durch Zitate das Gegenteil. So schrieb Martin Luther beim Tod seines 8 Monate alten Töchterchens Elisabeth: "Mein Herz wurde weich und schwach; niemals hätte ich gedacht, dass eines Vaters Herz so gebrochen sein könnte wegen seines Kindes Tod."

Ausgesetzte Kinder

Zwei Fragen rückt der Historiker in den Mittelpunkt: Wie denken und handeln Erwachsene gegenüber Kindern und wie erleben Kinder individuell jenes Handeln, das Erziehung genannt wird?

Der Blick in die Antike ist erschreckend. 20 Prozent der neugeborenen Buben und 40 Prozent der Mädchen wurden ausgesetzt. Der Autor empfiehlt ein Innehalten: Wie viele Kinder werden heute abgetrieben? Das Töten von Neugeborenen betrachteten erst die Christen - in Anlehnung an das Judentum - als Mord. Sie richteten dafür die Kindsmörderinnen hin.

Der Humanist Erasmus von Rotterdam wandte sich an die Väter, sie mögen aus den Wachsklumpen, der ihr Kind sei, das Bestmögliche modellieren: "Wenn du nachlässig bist, dann wirst du eine Bestie heranziehen, aber wenn du dich bemühst, dann wirst du ein gottgleiches Wesen schaffen, wenn ich diesen vermessenen Ausdruck verwenden darf."

Um die Bedeutung der Kindererziehung wusste man auf evangelischer wie katholischer Seite: Den Protestanten galt die Familie als Pflanzschule der Kirche und des Staates, während sich in katholischen Ländern die Waagschale von der Familie zur Kirche und zu den Schulen als wichtigste Institutionen für die Erziehung guter Christen neigte: Man denke nur an die Jesuiten.

Rousseaus Sensibilisierung für die Besonderheit der Kindheit wurde von den Romantikern aufgenommen, die die Kindheit über jeden anderen Lebensabschnitt hochschätzten.

Gegen Kinderarbeit

Der Kampf gegen die Kinderarbeit begann mit der Industrialisierung und der damit verbundenen Ausbeutung von Kindern. Dass sie früher gearbeitet hatten, ist schon für das 13. Jahrhundert belegt. Die Abschaffung der Kinderarbeit sieht der Historiker als wichtigste Veränderung der letzten 500 Jahre; die zweitwichtigste scheint ihm die Schulpflicht. Und den größten Bruch des letzten halben Jahrtausends ortet er in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Bemühungen von Eltern, Pädagogen, Sozialreformern, staatlicher Gesetzgebung, den Raum der Kindheit zu schützen und auszudehnen, werden heute von vielen Kindern und Jugendlichen torpediert. Sie pochen auf Rechte und verlangen Autonomie; möglichst früh wollen sie aus der Kindheit entlassen werden. Und bleiben gleichzeitig länger als je in der Geschichte Europas, wirtschaftlich gesehen, ein Passivposten für die Eltern.

Das Buch ist in guter englischer Manier nicht trocken, aber auch nicht reißerisch geschrieben. Es öffnet allerdings die Augen dafür, dass die Verwissenschaftlichung von Erziehung die geschwundene Eltern-Autorität nicht ersetzen kann.

Die Geschichte des Kindes in der Neuzeit

Von Hugh Cunningham. Aus dem Englischen von Harald Ehrhardt.

Patmos Verlag, Düsseldorf 2006

320 Seiten, geb., € 30,80

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