"ÖVP NEU" Eine Partei der Dritten Republik?

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Was kann die politische Bewegung bringen, die sich hinter Sebastian Kurz formieren soll? Die Trennung vom Althergebrachten war jedenfalls notwendig. Ein Kommentar.

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Was kann die politische Bewegung bringen, die sich hinter Sebastian Kurz formieren soll? Die Trennung vom Althergebrachten war jedenfalls notwendig. Ein Kommentar.

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Wessen Schuld oder Scham es auch immer ist: Was wir aktuell erleben, ist das nicht relative, sondern absolute Ende der Großen Koalition aus SPÖ und ÖVP. Was in einer ersten Phase unter ÖVP-Führung 1945 begonnen und bis 1966 gedauert hatte, hatte seine Verlängerung in einer zweiten Phase unter SPÖ-Führung von 1986 bis 2000 gefunden. Mit der dritten und letzten Phase von 2007 bis 2017, in der die beiden Systemparteien der Zweiten Republik nur noch 50 Prozent der Wähler an sich zu binden in der Lage waren, läuft sie aus. 1945 waren es noch 95 Prozent gewesen. Ist es ein Ende mit Schrecken oder ein Schrecken ohne Ende?!

Seinesgleichen geschah: Sonntagabend designierte der ÖVP-Vorstand Sebastian Kurz unter Absegnung eines Aktionspakets zum Bundesparteiobmann der österreichischen Christdemokratie, von dem selbst seine mächtigsten Vorgänger nicht einmal zu träumen gewagt hätten: alleiniges Nominierungsrecht für Spitzenfunktionen auf Bundes-, umfassende Vetorechte auf Landesebene, Vorgabe der inhaltlichen und strukturellen Richtung sowie Antritt mit einer eigenen Wahlliste bei der Nationalratswahl im Herbst des Jahres - quasi "Kurz en marche".

Radikalkur an Rumpf und Gliedern

In der Tat ist eine so radikale wie extreme Kur an Rumpf und Gliedern für eine im Wortsinn "Volkspartei" unumgänglich, deren inhaltliches Profil in den letzten Jahren weniger zu einer programmatischen denn zu einer pragmatischen Melange aktueller "Sachzwänge" tendierte und deren Format strukturell zu einem Abgleich divergierender Interessen schrumpfender Klientelen degenerierte.

Hauptsächlicher Magnet des bisherigen "schwarzen Lochs" der ÖVP war die "negative Energie" der (im Gegensatz zur erfolgreichen Schwesterpartei CDU nicht Rahmen-, sondern) Teilorganisation, aus deren "Mitte" sich die personelle "Elite" in Bezirk, Land und Bund rekrutierte: Die "Bünde"(italienisch "Fasci"), gegen deren "Machtergreifung" ( © Manfried Rauchensteiner) sich schon der erste (historisch versierte) Generalsekretär der Volkspartei, Felix Hurdes, vergebens aussprach, hatten bewusst oder unbewusst gemäß der Enzyklika "Quadragesimo anno" den Antrieb, Österreichs "Stände" möglichst harmonisch abzubilden, wie es in der Ersten Republik nicht gelungen war: Unternehmer im Wirtschaftsbund; Beamte, Angestellte und Arbeiter im ÖAAB; Landwirte im Bauernbund. Gern als "tragende Säulen" der Bewegung verklärt sind sie heute indes, da die traditionellen Milieus von 1945 nicht mehr existieren, hauptsächlich auf den untersten Ebenen (die die obersten bisher wählten), sehr pointiert gesprochen, oft nur noch abgekapselte "Sekten".

Massive Veränderungen

Die wirtschaftlich-gesellschaftliche und politisch-kulturelle Realität deckt eine solche Struktur schon seit Jahrzehnten nicht mehr ab: Arbeiteten 1950 noch rund 33 Prozent der Erwerbstätigen in der Land- und Forstwirtschaft, waren es 2015 gerade noch drei Prozent. Das Bild des Unternehmers, Anfang der Zweiten Republik vom klassischen Gewerbetreibenden geprägt, veränderte sich massiv in Richtung neuer Selbständigkeit, von den neuen Technologien unterstützt. Detto die Welt des Arbeitnehmers. Weitsichtig beklagte einer der erfolgreichsten ÖVP-Bundesparteiobmänner, Josef Klaus, bereits 1971 die Starrheit der bündischen Gliederung, die die Glaubwürdigkeit der Partei gerade auch bei Jungen, Künstlerinnen und Künstlern sowie Intellektuellen beeinträchtige.

Das nun vorliegende Projekt einer "Hybrid-Partei" (© Fritz Plasser) kann als Antwort auf das schon seit längerem Zeitraum zu beobachtende, durch die Globalisierung und Digitalisierung aller Lebensbereiche beschleunigte Phänomen der Auflösung homogener Milieus verstanden werden. Das bedeutet neue Anforderungen an die Politik: Bewegungen wie "En marche" oder die "Liste Kurz" versuchen, neue oder alte Narrative auf eine jedenfalls Hoffnungen evozierende Person zu projizieren. Ohne Substanz funktioniert das freilich auf lange Sicht nicht. Die alleinige Fokussierung eines Kollektivs auf die vermeintliche Ausstrahlung eines Individuums allein kann rasch zum Bumerang werden: Der sogenannte "Schulz-Effekt" in der SPD hielt kaum drei Monate an

Nach Deutschland blicken

Der "ÖVP neu" sei deshalb ein Blick zu ihren deutschen Schwesterparteien in Inhalt, Struktur und Begriff empfohlen: Deren Beispiel zeigt, dass eine christdemokratische Integrationspartei nach wie vor mehrheitsfähig sein kann, wenn das Angebot an Personen und Themen stimmig ist. Die Anforderungen unserer Ära -von den Konsequenzen der Finanzkrise um 2010 über die Bekämpfung des Terrors, die Begegnung des "gläsernen Menschen", die Bewältigung der Migration bis zur Antwort auf die Anfrage über Anfang und Ende von Leben überhaupt - bieten genug Potenzial für eine Bewegung, die nach den christdemokratischen Prinzipien der Personalität ("Wer sind wir?"), Subsidiarität ("Wie gehen wir vor?") und Solidarität ("Was streben wir an?") wieder politisch werden will.

Der Kairos ist da: Österreich benötigt dringend eine Aktion, die Verkrustungen und Erstarrungen aufbrechen und nachhaltige Reformen einleiten kann: Es bedarf einer umfassenden Staatsreform, einer Neudefinition des Verhältnisses von Sphären wie Staat und Person, Wirtschaft und Gesellschaft, Arbeit und Umwelt, Kultur und Politik etc. zueinander: innenpolitisch von der Einführung eines personalisierten Wahlrechts über eine transparente Reform der Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Gemeinden bis hin zur Verankerung und Durchsetzung des Prinzips der Nachhaltigkeit in allen Politikbereichen (insbesondere in der Bildungs-und Steuerpolitik) sowie außenpolitisch von einem stärkeren Engagement in unserer mitteleuropäischen Nachbarschaft bis zu einer klaren Strategie in Brüssel mit Partnern, wie sie andere Staaten ebenso haben.

Im internationalen Vergleich folgt auf eine umfassende Adaption in der Regel eine "neue" Republik als Terminus. Im österreichischen Kontext wäre es die "Dritte" - für viele ein Tabubegriff, weil sie nicht wissen, dass der Begriff "Dritte Republik" viel älter ist als einschlägige FPÖ-Konzepte aus den 1990er-Jahren. Sich an die Spitze eines ambitionierten Reformprogramms für eine neu konstituierte Republik zu stellen, wäre Aufgabe und Chance einer christdemokratischen Bewegung im 21. Jahrhundert.

Reichen Mut und Kraft?

Ob die populäre "ÖVP neu" tatsächlich den Mut und die Kraft hat, sich aus der Umklammerung durch versteinerte Interessenvertretungen und Restmilieus zu lösen, muss sie erst unter Beweis stellen. Zwischen dem modern verbrämten Aufguss einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Libertinage einer- und populistischen Projekten links wie rechts andererseits gibt es dringenden Bedarf an einer Reformpolitik aus christlich inspirierter Verantwortung und demokratisch motivierter Freiheit.

Die Autoren sind Wissenschaftler und Publizisten in Wien. Aktuell erschienen: "Manifest - Zu Österreichs Dritter Republik" mit Beiträgen u. a. von Anton Pelinka, Thomas Hofer, Erhard Busek. edition mezzogiorno 2017

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