Weil nicht sein kann, was nicht sein darf: Nationalcharaktere gelten in unseren Breiten als verhängnisvolle Illusionen, die "dekonstruiert" werden müssen.Man stelle sich einmal vor, es könnte empirisch bewiesen werden, dass die feine französische Lebensart eine Projektion, die Vorstellung vom distinguierten Engländer und der temperamentvollen Italienerin ein Bild der Phantasie wären und dass das Geheimnis der russischen Seele nicht enträtselt werden kann, weil es sie gar nicht gibt. Viel Papier wäre überflüssigerweise beschrieben worden und viele Überlegungen umsonst angestellt,
Über den Umgang mit Klassikern: Nicht mediale Verordnung, sondern Bewusstseinsbildung und Reflexion halten das tradierte literarische Erbe lebendig.Mitte der neunziger Jahre war am Wiener Institut für Philosophie eines Tages ein offener Brief mit etwa folgendem Inhalt zu lesen: Der Vorschlag, der kürzlich in einer Sitzung der Studienvertretung diskutiert worden sei, eine Liste mit jenen philosophischen Werken zu erstellen, deren Kenntnis eine Orientierungshilfe durchs Studium bieten könne, sei abgelehnt. Einen verbindlichen Kanon könne es ohnehin nicht geben, und eine derartige