Avantgarde der Dankbarkeit

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Alles überbietet sich heute darin, kritisch zu sein. Kritisch - das heißt heute nicht mehr: gute und schlechte Seiten benennen, gegenüberstellen, abwägen. Kritisch ist heute, wer ein Haar in der Suppe findet. Der Blick wird scheinbar immer schärfer, der Haarausfall in Politik, Wirtschaft und Kultur scheinbar immer katastrophaler. Aber ist es so? Hätten wir nicht alle in Europa und in Österreich erst recht Grund genug, dankbar zu sein?

Im öffentlichen Leben haben die christlichen Kirchen heute ihren Einfluss weitgehend verloren. Im Feld des Sozialen macht sich das scheinbar noch am wenigsten bemerkbar. Sehr deutlich ist das Verschwinden der Kirchen aber im Feld der Kultur zu spüren. Zu spüren? Sicher nicht für jemand, der von kirchlicher Kultur keine Ahnung hat. Aber die Minderheit jener, die kirchliche Kultur leben, ihre Sprache, ihre Gesten, ihre Traditionen, diese Minderheit wird wohl etwas spüren. Zum Beispiel: Wo wird heute eine Kultur des Dankes gepflegt?

Ich will ja nicht behaupten, dass Danken eine katholische Spezialität wäre. Aber im Wortschatz der christlichen Kirchen spielt doch das Danken eine große Rolle. Auch in ihren Zeichen und Bräuchen wird immer wieder Dank gezeigt. Hier wird eine Kultur des Dankes gelebt, die heute vom Vergessen bedroht ist.

Es hat den Anschein, als wären jene, die in unserem Land eine Kultur der Dankbarkeit leben, eine echte Minderheit. Sie sollten Minderheitenschutz erhalten, jene Christen, Muslime, Juden und Ungläubige aller Konfessionen. Künstlerinnen und Künstler haben hier viel beizutragen. Und was die Katholiken angeht, die ja doch ziemlich viele im Land sind: Sie könnten die Sprache und Tradition des Dankes pflegen und so eine Avantgarde bilden. Avantgarden sind immer Minderheiten. Warum nicht Minderheit sein?

* Der Autor ist Kunsthistoriker und Rektor der Jesuitenkirche in Wien

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