Der Streit um die Vorhaut ist wirklich uralt

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Vier Jahre nach der letzten Beschneidungsdebatte bringt Filmemacherin Anja Salomonowitz das Thema auf die Bühne: Im Volx Margareten rezitieren neun Kinder und eine Erwachsene kluge und kontroverse Beiträge zum Thema -ein kurzweiliger und wichtiger Abend.

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Vier Jahre nach der letzten Beschneidungsdebatte bringt Filmemacherin Anja Salomonowitz das Thema auf die Bühne: Im Volx Margareten rezitieren neun Kinder und eine Erwachsene kluge und kontroverse Beiträge zum Thema -ein kurzweiliger und wichtiger Abend.

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"Also ich sag dir was, bei Lacan ist der Phallus ja das Zentrum der Macht und diese archaischen Rituale reproduzieren diese patriarchalen Machtstrukturen." Wenn ein derartiger Satz in einem postfeministischen Uni-Seminar über die Aktualität der Geschlechterverhältnisse fällt, wird das kaum jemanden hinter dem Ofen hervorlocken. Kommt dieser Satz jedoch aus dem Mund eines zehnjährigen Mädchens -und noch dazu ohne Fehler und ohne Zaudern -Dann darf es im Publikum schon ein paar Lacher geben.

Die gelöste Beklemmung

Es gibt fürs p.t. Publikum im Volx Margareten, dem kleinen Haus des Wiener Volkstheaters, bei "Der Junge wird beschnitten", Anja Salomonowitz' erster Theater-und Bühneregiearbeit, einiges zu lachen. Auch der Jüngste der Darsteller, ein achtjähriger Bub, der mit dem Charme eines vorlauten Kleinen jüdische Witze über die Beschneidung zum Besten gibt und auf einer Kindergeige spielt, löst vom ersten Moment an die Beklemmung, die das Thema bis heute (vermutlich auch beim Publikum) auslöst.

Nicht erst seit der Beschneidungsdebatte im Jahr 2012, als ein Kölner Gericht Beschneidung zu einer leichten Körperverletzung erklärte, zieht sich die politische, religiöse, philosophische, medizinische Debatte dazu hin. Und erst recht der Gender-Diskurs lässt sich anhand der Beschneidungsfrage trefflich führen. Eine ernste und hehre Auseinandersetzung, die von Fragen der Religion -Knabenbeschneidung gibt es im Judentum und, obwohl nicht im Koran gefordert, auch im Islam -und der Identität ausgeht. Und die in den politisch-kulturellen Verwerfungen der unmittelbaren Gegenwart auch im Kampf gegen Judentum und /oder Islam herangezogen wird.

Filmemacherin Salomonowitz übernimmt hier ein formales Konzept, das sie schon 2007 in ihrem Film "Kurz davor ist es passiert" über Frauenhandel in ähnlicher Weise angewandt hat: Sie hat für "Der Junge wird beschnitten" Interviews mit Erwachsenen geführt und aus diesen Texten eine in sich stimmige Collage destilliert, die nun von neun Kindern zwischen acht und 13 rezitiert werden. Nur eine Erwachsene ist in diesem Ensemble mit dabei: Karin Lischka hält das Ganze zusammen und kommt dran, wenn es genital besonders explizit wird: Da schickt sie die Kinderschauspieler und auch die Kids im Publikum aus dem Saal und kommt dann, sozusagen allein unter Erwachsenen zur (Penis-)Sache.

Dieses bemüht jugendschützlerische Intermezzo ist dramaturgisch kaum notwendig, das Stück ginge auch ohne diesen Gag auf: "Der Junge wird beschnitten" erweist sich vor allem als grandiose Vergegenwärtigung der Debatte, ohne ein Argument pro und kontra auszusparen.

Rundherum schmerzhaft

Man muss Salomonowitz dankbar sein, das delikate und emotional gewiss sperrige Thema geradezu leichtfüßig aufzulösen und dennoch die Brisanz der dahinterstehen Fragen nicht zu leugnen oder zu verniedlichen.

Dass das mit der Kinderschar so aufgeht, ist zweifellos das Verdienst von Regisseurin und Autorin, die sparsame Ausstattung von Katharina Heistinger, und die verdeutlichenden Projektionen von Oleg Prodeus tun ihr Übriges dazu wie die ebenfalls sparsame, aber eindringliche musikalische Begleitung von Bernhard Fleischmann.

Das Ritual ist religionsgeschichtlich und kulturhistorisch erklärbar. Es lässt Betroffene dennoch in Qualen zurück: Jüdische Mütter, die halb umkommen vor Sorge, was ihrem wenige Tage alten Wurm da angetan wird. Muslimische Buben, denen die Vorhaut entfernt wird, als sie schon alles rundherum schmerzhaft mitbekommen. Salomonowitz lässt dies durch Kindermund erzählen, und auch die kindlichen Stimmen, die den Diskurs der Erwachsenen oder die religiösen Anweisungen der Rabbiner oder Imame wiedergeben, verfremden die Debatte - und lassen durch diese Darstellung die Herzen der Zuschauer anrühren oder sie herzhaft Lachen, auch wenn einem eigentlich nicht zum Lachen zumute ist.

"Wir geben Kindern doch ständig die Aufgabe, die seltsamen Dinge aus der Erwachsenenwelt zu verstehen und mitzutragen -nicht nur mit solchen Ritualen, auch im alltäglichsten Alltag. Das müssen sie aushalten." So charakterisiert Salomonowitz ihr Konzept und fügt hinzu, dass sie durch die Erwachsenenworte aus Kindermund diese Machtstruktur offenbar mache.

Religion im umfassendsten Sinn

Plastisch wird das in jener Interviewpassage, die die Beschneidungsdebatte als Aufweis dafür sieht, inwieweit die Gesellschaft den Anderen zulässt: "Aber es ist notwendig, diesen Anderen zu akzeptieren und leben zu lassen. Denn wir haben es nicht nur mit einer antisemitischen Vergangenheit zu tun, sondern auch mit einer antimuslimischen Gegenwart."

Es geht also um Religion im umfassendsten Sinn des Wortes. Religion, die den Menschen bis in seine Physis hinein prägt. Salomonowitz fasst das prägnant so zusammen: "Da hängt ein gehöriges Stück Menschheitsgeschichte dran an diesem Thema, und es geht um nichts weniger als um die Menschwerdung selbst."

Der Junge wird beschnitten Volx Margareten, 9., 10. April, 4., 9. Mai

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