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Vor 100 Jahren beging der Skandalphilosoph der Wiener Moderne Selbstmord - wenige Monate nach Erscheinen seines Hauptwerks "Geschlecht und Charakter".

Der Fall Otto Weininger war ein Skandal. Skandalon heißt Falle und erregt gleichermaßen Anstoß wie Lust. In diese Falle fiel Weininger - und viele fielen in der Folge auf Weininger herein.

Otto Weininger verfiel ohne Zweifel dem Vorurteil von Frauenverachtung und Judenhass. In meinem Verständnis Weiningers ist denn auch sein opus magnum et scandalosum "Geschlecht und Charakter" (1903) mit allen Vorurteilen zu lesen. Weiningers Werk wirkt wirklich herausfordernd. Es stellt nämlich nicht minder die eigenen Vorurteile heraus. Wer etwa in Weininger nur den Fall sieht, gerät in die Falle des Skandals. Das Vorurteil der Vorurteilslosigkeit, wie es die Generation der sexuellen Revolution und des permanenten Ideologieverdachts pflegt, wird Weininger jedenfalls nicht gerecht. Diese Vorverurteilung zu Antifeminismus und Antisemitismus prägt prominent Jacques Le Riders Dissertation "Der Fall Otto Weininger" (Paris, 1982; Wien/München, 1985), mit der dieser reüssierte und die Weininger-Renaissance ihren letzten Höhepunkt erfuhr. Damals war die Postmoderne modern gewesen, deren Wurzeln Le Rider später in der Wiener Moderne erkannte.

Weniger Weininger

Der Fall Otto Weininger begann bereits mit dem Selbstmord des erst dreiundzwanzigjährigen Doktors der Philosophie in Beethovens Sterbezimmer am 4. Oktober 1903. Nun wurde Weiningers Werk gleichsam als suizidales Präludium betrachtet. Man interessierte sich für ihn als psychiatrisches Studienobjekt. "Der Fall Otto Weininger" lautete auch der Titel der pamphletistischen Expertise von Ferdinand Probst im Jahr nach Weiningers Tod. Und bekanntlich diagnostizierte kein geringerer als der Vater der Psychoanalyse Weininger als "hochbegabten und sexuell gestörten jungen Philosophen", der "völlig unter der Herrschaft infantiler Komplexe" gestanden sei; von dessen Buch sagte Freud in dieser Fußnote, dass "die Beziehung zum Kastrationskomplex das dem Juden und dem Weibe dort Gemeinsame" sei.

Ganz ohne Vorurteil freilich war auch Prof. Freud nicht. Er fand sich mit Otto Weininger in einem der merkwürdigen Dramen der Psychoanalyse verstrickt. Freud wurde von seinem Freund Fließ verdächtigt, dessen Theorien der menschlichen Bisexualität an Hermann Swoboda, der bei Freud in Therapie und ein Freund Weiningers war, weitergegeben zu haben. Freud in seiner Selbstanalyse an Fließ: "Im Zusammenwirken mit meinem eigenen Versuch, Dir diese Originalität zu entwenden, verstehe ich dann mein Benehmen gegen W. und mein weiteres Vergessen."

Wer auch heute noch die Weininger-Literatur liest, wird viel über Weininger lesen, oft ohne Weininger gelesen zu finden. Dies erstaunt umso mehr, als immerhin das Hauptwerk "Geschlecht und Charakter" von seiner Veröffentlichung im Mai 1903 bis zum Februar 1925 nicht weniger als 26 Auflagen erlebte und im März 1926 sogar eine gekürzte "Volksausgabe" erschien. Es wurde in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt. Seine Lektüre hat ganze Generationen nachhaltig geprägt. Nur in Frankreich blieb die Wirkung lange Zeit aus. Erst 1975 gab es eine französische Übersetzung; und sie erschien in einem Schweizer Verlag. Bloß der Exilrumäne Emil Cioran hatte sich Weininger nicht verweigert - als siebzehnjähriger Gymnasiast im siebenbürgischen Hermannstadt nach erster Liebesenttäuschung; er begeisterte sich sofort für "die Gleichsetzung der Frau mit dem Nichts oder mit noch weniger. Meine Zustimmung zu dieser verheerenden Behauptung war vom ersten Augenblick an gegeben." Weniger Weininger wäre mehr.

Die zweite Falle stellt Otto Weininger als einen besonders deutlichen Fall von Wien um 1900. Er teilte die Vorurteile der Zeit, heißt es, Weininger sei geradezu ein paradigmatischer Repräsentant jener paradoxen Symbiose der typischen Wiener (antimodernen) Moderne. (Allan Janiks bemerkenswerte Replik auf Jacques Le Rider setzt hier an.) Weininger wollte gefallen. Doch sein Narzissmus ging weiter. Er forderte heraus, er harmonisierte nicht. Weininger nahm immer schon das Gegenteil vorweg und radikalisierte derart den Widerspruch. So trat er etwa wenige Monate vor seinem Tod zum Protestantismus über - und nicht zur römischkatholischen Konfession des Habsburgerstaates, die ihm die Absolution der Assimilation erteilt hätte. Dies ließe sich als eine Art von Überkompensation erklären, mit der Hermann Broch das Phänomen des jüdischen Antisemitismus beschreibt; der assimilierte Jude sieht sich "aus dem auserwählten Volk auserwählt".

Überkompensation

Weininger ging zu weit. Auch die nüchterne Textkritik bietet dafür einen Beleg. Nach dem Fund der ursprünglichen Fassung von Weiningers Dissertation wissen wir heute besser, dass sie Weininger in dem knappen Jahr nach seiner Promotion überarbeitet und um die Kapitel X-XIV (darunter die bekanntesten wie "Mutterschaft und Prostitution", "Erotik und Ästhetik" oder "Das Judentum") ergänzt hatte. Sie ergeben damit gewissermaßen einen neuen, dritten Teil von "Geschlecht und Charakter". Dieser hat "vorzugsweise Anstoß gegeben", wie Weiningers Doktorvater Friedrich Jodl bemerkte. Zu seiner Rechtfertigung gab er an, dass "auf dessen Ausarbeitung den Lehrern Weininger's keinerlei directer Einfluß zustand".

Weiningers Genie aber scheiterte an seiner Theorie des Genies. Für Hitler blieb er genial: der einzige "anständige Jude", "der sich das Leben genommen hat, als er erkannte, daß der Jude von der Zersetzung anderen Volkstums lebt". Zu seinen Adoranten zählten ganz unterschiedliche Persönlichkeiten. An Weiningers Grab standen Karl Kraus, Stefan Zweig und der erst vierzehnjährige Ludwig Wittgenstein; für diesen lag "seine Größe in dem, worin wir anderer Meinung sind. Sein gewaltiger Irrtum, der ist großartig."

Otto Weininger irrte in der Tat gewaltig. Er vergewaltigte, statt zu erkennen. Seine eigene Erkenntnis verriet er an seine Vorurteile. Weininger geht von der Bisexualität des Menschen aus und fasst sie in den Prinzipien M und W. Reine Männlichkeit und reine Weiblichkeit existieren bloß als Idealtypen, real gibt es freilich nur Mischformen.

So kann er auch seine berühmten Formeln formulieren. Damit folgt Weininger dem ins Geschlechtliche gewandten metaphysischen Grundsatz, wonach jedes Ding gleichzeitig sein Gegenteil in sich birgt. Doch Weininger übertreibt und radikalisiert seinen ursprünglichen Ansatz. Er setzt einen Gegensatz des Grundsatzes als Prinzip. (Derart lassen sich Anti-Feminismus und Anti-Semitismus in seinem Werk verstehen.) Letztlich nämlich gründet alles allein in M.

Die Falle: das Genie

Das All-Eine schlechthin aber ist für Weininger das Genie. Damit erklärt er Genialität zum Grundprinzip. Die Seele - hat es in der klassischen Philosophie geheißen - ist im gewissen Sinne alles. Und so will Weininger nicht weniger als den metaphysischen Beweis erbringen, dass Seele "im Bereiche des Menschen nur M zukommt und W fehlt". Genialität ist an Männlichkeit geknüpft. Im Grunde kommt W nichts zu; sie erhält alles Sein allein im Gegensatz durch die Männlichkeit des Mannes.

Nicht viel anders als mit dem Antifeminismus verhält es sich mit Weiningers Antisemitismus. Das Judentum ist nach ihm seelenlos; es fehlt ihm demnach Genialität. Eignet der Weiblichkeit wenigstens der Vorteil, grundsätzlich im Gegensatz zu stehen, so besteht darin eine wesentliche Differenz zum Judentum. Diesem wird in der spekulativen Theorie Weiningers der Gegensatz erst durch den Religionsstifter Christus im Christentum geschaffen, indem er als der genialste Mensch in sich das Jüdische überwindet. Zugleich nimmt dies dem Judentum die Möglichkeit zur Genialität, das heißt zum Sein.

Die Falle Otto Weininger schlägt in seinem Genie-Gedanken zu. Sie brachte ihn um sein Genie. Hundert Jahre nach seinem Tod lässt sich Weininger nach wie vor mit allen Vorurteilen lesen. Allerdings fangen die Fallen Phantasmagorien. Der Skandal Weininger erregt heute weder Anstoß noch Lust. Requiescat in pace!

Der Autor ist zur Zeit Gastlektor an der Universität Cluj-Napoca/ Klausenburg in Rumänien und schrieb den Einleitungsessay für die erste rumänische Übersetzung von Otto Weiningers "Geschlecht und Charakter".

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