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Ein Modebuch

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Otto Weiningers „Geschlecht und Charakter“ ist in 28. Auflage erschienen. Eine beachtenswerte Auflagenziffer für ein wissenschaftliches Werk. Wie ist die große Wirkung dieses Buches seit seinem ersten Erscheinen (1903) zu erklären? Wäre auch zunächst abzuwarten, ob die Neuauflage imstande sein wird, die bisherige Wirkung des Buches erneut aufleben zu lassen, so ergibt sich doch die Frage: Ist eine solche Neuauflage sowohl aus kulturgeschichtlichen als auch aus kulturellen Gründen zu begrüßen?

Die Wirkung des Buches gründete sich auf das Thema und den Versuch seiner Beantwortung und auf die Jugend und das tragische Geschick seines Verfassers.

Das Thema des Werkes muß trotz Weiningers wissenschaftlichem Ernst aus der. Zeitsituation verstanden werden, die unter anderem charakteristisch ist für die öffentliche Erörterung der sexuellen Frage und die für Dichtung und Bühne die Dirne entdeckte. Die damalige Jugend schöpfte ihr theoretisches Wissen vom Weibe unzweifelhaft aus diesem Buch. Als nach dem ersten* Weltkrieg die Dirne im Alltags- und Kunstleben wahre Triumphe feierte, griff die neue Jugend um so eifriger danach; und da inzwischen rührige Freunde eine Legende um Leben und Selbstmord des Verfassers gesponnen hatten, nahm sie noch williger die Thesen und Hypothesen des Werkes an. Tatsache ist,' daß die Wirkung des Buches überhaupt erst nach Bekanntwerden von Weiningers Selbstmord begann. Das Werk, aus einer umfassenden Belesenheit und einer beachtlidien Geistigkeit erwachsen, bekundete eine erstaunliche Frühreife. Seine Grundlagen waren ehrlich errungen und schienen logisch unangreifbar zu sein. Konsequent wagte hier ein tüchtiger Kopf den Sprung von den Naturwissenschaften über die Psychologie zu den Geisteswissenschaften, um eine Charaktertypologie der Geschlechter zu entwerfen, die in ihren Auswirkungen radikal genug war, sensationelle Zustimmung oder Ablehnung hervorzurufen. 1 War es verwunderlich, daß sich die Jugend mit ihrer heimlichen Liebe für Frühvollendete diesem Revolutionär begeistert in die Arme warf?

Weiningers Buch drang so stark ins Bewußtsein der Zeit, daß von vielen darin vorgebrachten Gedanken die Priorität seines Verfassers angenommen wurde, wogegen sich zum Beispiel schon Sigmund Freud wandte. Trotzdem kann die Wirkung des Werkes als ein Stück Wiener Kulturgeschichte nicht geleugnet werden, was seine Neuauflage aus kulturgeschichtlichen Gründen gerechtfertigt erscheinen läßt.

Als Student der Naturwissenschaften und der Philosophie sammelte Weininger Material über das biologische Geschlcchter-problem. Daraus erwuchs seine Dissertation, die sich mit dem ersten Teil seines Buches ungefähr deckt. Wäre Weininger Naturwissenschaftler und Psychologe geblieben, so hätte man von ihm noch manche gute Leistung erwarten dürfen. Unter Berufung auf Kants „rigoristische“ Ethik jedoch verirrte er sich unrettbar in eine logisierte Wertlehre, die mit Kant weder die Ehrfurcht vor dem Leben noch vor dem weib-lidien Geschlecht teilte, um schließlich mit unzulänglichen Mitteln an die Tore der Metaphysik zu pochen. Weininger hatte die Grenzen der rationalen Erkenntnis nicht nur erreicht, sondern überschritten; er kam weiter, als man auf diesem Wege überhaupt kommen darf. Unsere Zeit, die genug Gelegenheit hatte, die Sünde wider den Geist in ihren tausendfältigen Auswirkungen auch auf den Leib und die Seele zu erfahren, erscheint die Sünde wider das Leben, der Weininger bezichtigt x werden muß, sicherlich geringfügiger; aber wer die Werte des Leibes und der Seele zerstört, der zerstört auch die Werte des Geistes.

Weininger gab vor, die Kunst zu verstehen, und doch war ihm die künstlerische Intuition so fremd wie das unbewußte Wirken der Seele, das er geringschätzig als „Henide“ auffaßte. Seine Genietheorie war einseitig rationalistisch und deckte sich bei ihm mit dem Bewußtsein; dieses Bewußtsein aber war ihm das zu einem Riesen ausgewachsene Gedächtnis. Er wurde dem Schöpferischen im künstlerischen Wirken nicht gerecht, denn er übersah geflissentlich die vielen Selbstzeugnisse, die den Künstler zum Werkzeug höherer, göttlicher .Kräfte stempeln. Weininger war nur Logiker und hatte keine Ahnung vom irrationalen Geist. Hinter dem starken Willen dieses Menschen, der nur Werktage und keinen Sonntag kannte, stand das. achtenswerte Bestreben, in jedem Augenblick die ganze Persönlichkeit zum vollen Einsatz zu bringen. Aber seine Persönlichkeit umfaßte nur die rationalen Kräfte, was ihn zwar zu seinen frühreifen geistigen Leistungen befähigte, aber auch die Sterilität seines Wesens kennzeichnet.

Aus diesem Rationalismus ergeben sich alle andern, oft recht grotesk anmutenden Urteile. Wie Schopenhauer war Weininger liebelos und liebesunfähig und nur von der Pein der Sexualität erfüllt, die er gleich diesem haßte. „Liebe ist Mord. Der Geschlechtstrieb negiert das körperliche und das psychische, die Erotik noch immer das physische Weib.“ Weininger verstand es nicht, Leib und Seele zu durchgeistigen, das Tierische im Menschen emporzuläutern.

Mit dem mütterlichen und dem koketten Weibe (Dirne) vermeinte er die Totalität des Weibes zu erfassen. Er spielte eines gegen das andere aus, um schließlich die metaphysische Existenz des Weibes zu leugnen. Verächtlich betrachtete er das dienende Umhegen der Mutter, diesbezüglich noch weiter als Strindberg gehend, der im Anblick einer Mutter, die sich liebend über ihr Kind beugt, all seinen Frauenhaß vergaß. Weininger trat dje Seelenhaftigkeit und die Liebesfähigkeit des Weibes mit Füßen, so daß seine diesbezüglichen Ausführungen als der verständnislose Gegenpol zu der wunderbaren Deutung des weiblichen Wesens in Gertrud von Le Forts „Die ewige Frau“ gewertet werden müssen, worin Urbestimmung und geheime Wirkung der Frau in der menschlichen Geschichte aufgezeigt wird.

Trotz der vielen guten Worte, die Weininger für das Christentum findet, muß er als unchristlich, ja durchaus als unreligiös bezeichnet werden. Durch den Rationalismus wurde sein Denken am Geheimnischarakter der Kirche zuschanden. Auch seine Zusammenhänge mit der Mystik sind nur scheinbare (wenn man seinen verkrampften Pansymbolismus überhaupt als Ausdruck mystischen Denkens auffassen darf), denn er tastete nur von außen ab, ohne den Kern des natürlichen wie des übernatürlichen Lebens zu erfahren. Weininger fehlte die Kraft und der Glaube, die Hoffnung und die Demut. Er kannte weder das Mitleid noch die Ehrfurcht. Seine Ethik war ohne Liebe, ohne Verzeihen. Seine Güte war nicht echt, sondern krampfhaft, und er war humorlos. Ihm mangelte das Vertrauen auf die Weltsdiöpfung, und er verstand es nicht, im Buch der Natur die Handschrift Gottes zu lesen. In frevel hafter Gier riß er den Schleier von allen Geheimnissen, und weil er weder den Leib noch die Seele als göttliche Offenbarunv erkannte, entblößte er den Schoß des Lebens, ohne die Ohnmacht seines Rationalismus gewahr zu werden. Weininger vergewaltigte die Natur und übte unerlaubte Kritik an der Gegebenheit der Welt. Das Leben riß ihm die kunstvolle Maske vom Gesicht und es zeigte ihm in den letzten Monaten seines Lebens einen Menschen, der wohl auf logischem, theoretischem Gebiet konsequent war, indem er zum Beispiel den ethischen Grundsatz aufstellte, daß man keinen Menschen seines Willens berauben dürfe — und sich doch nicht zur verstellenden Güte durchringen konnte. Weininger hatte sich in das Labyrinth seines Denkens verfangen. Nicht imstande, zu widerrufen, aber auch nicht mehr fähig, nach den Maximen seiner Ethik weiterzuleben, blieb ihm nur der Selbstmord übrig. „Geschlecht und Charakter“ war sein Todesurteil geworden.

Wenige wagten es wie Weininger, das rational Gedachte auch rücksichtslos auszusprechen. Trotz der unerhörten Gefahr, die seine Ansichten besonders für die Jugend bedeuten, mag seine Daseinsberechtigung vielleicht aus dem Umstand abgeleitet werden, daß er ohne Beschönigung vorzu führen vermag, wohin eine Philosophie ge rät, die vermessen den Weltschöpfer kritisiert, weil sie vor dem Geheimnis des Lebens nicht haltmachen will. Weiningers Studien gingen von der Polarität der Geschlechter aus; aber statt diese Polarität als gottgewollt anzuerkennen, wollte er sie auf heben.

Auf ethischem Gebiet kann Weininger, allerdings auch hier nicht bis zu seinen letzten Folgerungen, für unsere .Zeit nur mit seinem Gedanken der universellen Verantwortlichkeit beispielgebend wirken. Dies allein vermag jedoch nicht, eine Neuauflage von „Geschlecht und Charakter“ auch aus kulturellen Gründen zu rechtfertigen, denn dieses Werk vergiftet wie kein anderes die Beziehungen der Geschlechter und lähmt den Lebenswillen und den Glauben an einen Sinn der Menschheitsgeschichte; und gerade dieser Glaube ist schon zu sehr erschüttert worden, als daß er neuen Belastungsproben ausgesetzt werden dürfte. Aber wie bereits gesagt: Es wäre überhaupt einmal abzuwarten, ob die Neuauflage imstande sein wird, die heutige Jugend ebenso unheilvoll zu bezaubern, wie es bei den bisherigen Auflagen der Fall war. Modebücher haben ein starkes, aber auch ein kurzes Leben. Und „Geschlecht und Charakter“ ist ein Modebuch.

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