Ein Amerikaner in Wien

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Als ihn die Österreichischen Forschungsgemeinschaft fragte, ob er den von ihr verliehenen Ludwig-Wittgenstein-Preis annehmen würde, nannte er Namen, die würdiger wären als er. Der in Princeton lebende Carl E. Schorske, der mit seinem Buch "Wien. Geist und Gesellschaft des Fin de Siècle" weltberühmt geworden ist und das Wien der Jahrhundertwende zu einem Weltthema gemacht hat, konnte vergangene Woche nicht persönlich an die Universität Wien kommen, um den renommiertesten Wissenschaftspreis Österreichs in Empfang zu nehmen, doch erklang die sonore Stimme des bald Neunzigjährigen in einer akustischen Grußbotschaft.

Schorske, 1915 in New York geboren, hat deutsch-jüdische Wurzeln: der Großvater väterlicherseits war ein aus Breslau eingewanderter Zigarrenmacher, der bereits am amerikanischen Sezessionskrieg teilnahm - in einem "German regiment" aus New York, Schorskes Mutter entstammte einer ebenfalls aus Deutschland eingewanderten jüdischen Familie. Im Kindergarten gab er einmal ein deutsches Lied zum Besten, da entlud sich der kollektive Deutschenhass gegen ihn, der in Amerika nach dem Ersten Weltkrieg noch sehr stark war - Schorskes erste unfreiwillige Begegnung mit seinen Lebensthemen: Politik und Musik. Eigentlich wollte er ja Sänger werden, doch da seine Stimme nicht reichte, genoss er eine Ausbildung an den amerikanischen Eliteuniversitäten Columbia und Harvard. Dort wurde er mit der damals neuen historischen Teildisziplin "intellectual history" vertraut, wie Gerald Stourzh in seiner Laudatio ausführte.

Als Professor lehrte Schorske zuletzt an der University of California und in Princeton, wo er 1980 das amerikanische Original seines epochemachenden Wien-Buches publizierte, für das er 1981 den Pulitzer-Preis erhielt. Wendelin Schmidt-Dengler wies in seinem Festvortrag zur Preisverleihung auf den transdisziplinären Charakter des Werkes hin, das abseits akademischer Stallgerüche so unterschiedliche Disziplinen wie politische Geschichte, Architektur- und Kunstgeschichte, Literatur- und Musikwissenschaft und Psychoanalyse integriert und mit dem Blick von außen "Wien Wien erklären" konnte.

Schorske, der 1955 zum ersten Mal nach Österreich kam, hat Wien zu seinem wichtigsten Forschungsgebiet gewählt, "weil hier die Komplexität einer Gesellschaft der Moderne am überschaubarsten war" und hat damit das weltweite Interesse an der Wiener Moderne initiiert und gefördert. In den 1980er Jahren organisierte er Ausstellungen für das Metropolitan Museum of Art New York und das Centre Pompidou Paris und hat auch die Wiener Fin-de-Siècle-Ausstellung wesentlich beeinflusst.

Schorske gilt international als einer der größten lebenden Kulturwissenschaftler, ist Träger vieler Auszeichnungen, Ehrendoktor der Universitäten Salzburg und Graz und seit Jahren dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaft (IFK) in Wien eng verbunden. Seine Cultural Studies betrieb er "auf der Suche nach Sinn für Kohärenz in einer fragmentierten Zeit". Das spiegelt sich auch in seinem bei der Preisverleihung präsentierten Buch "Mit Geschichte denken" wider. "Mit der Geschichte zu denken, das schließt auch ein, in der Geschichte gegen die Geschichte anzudenken", beschreibt Aleida Assmann im Vorwort einen Grundimpuls Schorskes. CH

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