Wegweisender Forscher zum Wien der Moderne

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Sein Hauptwerk verfasste er als 65-Jähriger, an der Schwelle zur Emeritierung. Mit einer solch späten Ernte eines reichen Lebens in Lehre und Forschung fiele er heute glatt durch alle Vorgaben einer effizienten Universitätskarriere. Aber Carl E. Schorske veröffentlichte seine epochale Gesamtschau "Wien - Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle" bereits 1980, in einer hohen Zeit der Wertschätzung für humanistische Studien. So ist denn auch sein 1981 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnetes Epochenbild schon bald in zehn Sprachen übersetzt worden. Es hat maßgeblich zu dem vitalen Interesse beigetragen, das seither der so fruchtbaren kulturellen Spätzeit in der Kapitale des Habsburgerreichs entgegengebracht wird.

Es folgten Großausstellungen zu dem Thema, häufig unter Schorskes Mitwirkung. Vielbeachtet war in den 1980er-Jahren die von ihm angeregte Schau "Traum und Wirklichkeit", die in Wien, Paris und New York gezeigt wurde. Im Buch "Fin-de-Siècle Vienna", eine Essaysammlung zur Politik und Kultur der Zeit, findet sich auch Schorskes fulminante Untersuchung zur Ringstraßen-Erweiterung 1865, deren 150-Jahr-Jubiläum wir gerade feiern. Er beschrieb, frühe Kritik eines Camillo Sitte oder Otto Wagner aufnehmend, den Prachtboulevard des Liberalismus als symbolische Kulisse für eine brüchige Identität: "Die praktischen Aufgaben, die der Neuentwurf einer Stadt erfüllen könnte, wurden ausdrücklich der symbolischen Rolle der Repräsentation untergeordnet. Nicht der Nutzen beherrschte die Ringstraße, sondern die kulturelle Selbstdarstellung. Der Begriff, mit welchem man das große Programm der Sechzigerjahre gemeinhin zu beschreiben pflegte, war nicht Renovierung oder Entwicklung, sondern 'Verschönerung des Stadtbildes'". Erst aus der Krise des Liberalismus, aus der Rebellion seiner Söhne sei das Wien der Moderne entstanden. In großen Bögen verband der Kulturhistoriker, der zuvor jahrzehntelang in Berkeley und Princeton gelehrt hatte, die Themen Politik und Psychoanalyse, Literatur und Lebensstil, Musik und Wissenschaft. Als Gründungsvorsitzender des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) hat er ab 1993 auch starke Impulse für Wiens Geistesleben gesetzt.

Am 29. März wird dem Gelehrten, der Mitte des Monats 100 Jahre alt wurde, im Altersheim New Jersey bei einem Festkonzert das Goldene Ehrenzeichen der Republik Österreich verliehen. Kulturminister Josef Ostermayer ist hierzu angesagt.

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