Exoten unterm Riesenrad
"Völkerschauen", auf denen echte Eingeborene ausgestellt wurden, begeisterten vor rund 100 Jahren die Wiener.
"Völkerschauen", auf denen echte Eingeborene ausgestellt wurden, begeisterten vor rund 100 Jahren die Wiener.
Mei Weiberl is narrisch, Sie draht si so gern, Als ob auf dem Radl, Aschanti drobn wärn", heißt es in einem Volkslied über das Wiener Riesenrad. 120 Afrikaner vom Volk der Aschanti aus dem heutigen Ghana, die "Aschanti-Neger", brachten 1897 die Phantasie der Wiener in Wallung. Einen Sommer lang lebten die Eingeborenen in einem nachgebauten Dorf im Wiener Prater, bezeichnenderweise auf dem Gelände eines Zoos. Gegen Eintritt konnten Besucher in der umzäunten Siedlung umherspazieren und den Menschen beim Essen, beim Schlafen und bei sonstigen alltäglichen Verrichtungen zusehen. Jeden Abend wurden in einem nahegelegenen Zirkusgebäude "Kriegs- und Fetisch-Tänze" aufgeführt. Der Schriftsteller Peter Altenberg verlegte seinen Wohnsitz für mehrere Monate ins Aschantidorf, wo der notorische Frauenhasser mit mehreren Afrikanerinnen sexuelle Kontakte pflegte.
Wie in anderen Großstädten auch, erfreuten sich im Wien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ethnografische Schaustellungen großer Beliebtheit. Bis in die dreißiger Jahre konnte dort das zahlende Publikum Menschen aus anderen Erdteilen, die von professionellen Veranstaltern angeheuert worden waren, wie in einem Zoo betrachten. Mit dem Projekt "Strange Views" hat sich der Verein "Alltag und Geschichte" auf die Spuren jener ethnografischen Schauen begeben. Folgt man einem zwei Kilometer langen, mit orangefarbener Schrift am Boden markierten Rundgang durch den Wurstelprater, stößt man auf so manches materielle Überbleibsel aus jener Welt, in der ethnografische Schauen zum Alltag gehörten, zum Beispiel ein mehr als 100 Jahre altes "Dampf-Carousel", auf dem sich ein Mohr und geflügelte Engel anderer Hautfarbe drehen: die afrikanischen Engel sind schwarz, die asiatischen gelb, die amerikanischen rot ...
Nicht nur materiell haben die ethnografischen Schauen Spuren hinterlassen. Die Ausstellungen hätten wesentlich zum Bild beigetragen, das sich die Österreicher noch heute vom Fremden machen, meint die Historikerin Karin Schneider von "Alltag und Geschichte". Rassismus, die Einteilung von Menschen in essentiell unterschiedliche Gruppen, sei demnach durch diese Schauen nachhaltig bestätigt worden - und hat sich bis heute gehalten. Das Fremde erscheine dabei jedoch nicht nur als das Bedrohliche, sondern auch als das Natürliche, Ursprüngliche. Phantasien und Sehnsüchte aller Art würden auf das Fremde projiziert, sagt Schneider. Wahrscheinlich infolge der Ausstellung heißen in Ostösterreich die naturbelassenen Erdnüsse mit Schale noch heute Aschanti - im Gegensatz zu den geschälten, gesalzenen und in Plastik eingeschweißten.
Bereits Kolumbus hatte Bewohner der Karibikinseln als Kuriosität an den spanischen Hof gebracht. 1825 tourte eine Eskimo-Familie durch Österreich, die am Teich des Oberen Belvedere mit dem Kajak Jagd auf Gänse machte, 1833 wurde ein Aschanti-Krieger in Wien herumgereicht. Von der Weltausstellung 1873 an wurden für das breite Publikum im und um den Wiener Prater zahlreiche ethnografische Schauen im großen Rahmen organisiert. Die Ausstellungen waren ein Riesenerfolg: Das siamesische Dorf und die Kabylenschau zählten allein am Pfingstwochenende 1899 rund 47.000 Besucher. Der Hamburger Tierparkunternehmer Carl Hagenbeck brachte in seinen aufwendigen "Anthopologisch Zoologischen Ausstellungen" auch die zu den Menschen passenden Tiere nach Wien: Die Nubier-Karawane begeisterte die Wiener 1878, die Singhalesenschau 1884 und 1885.
Obwohl die ethnografischen Schauen mit dem Anspruch höchster Authentizität antraten, mußten die bezahlten Eingeborenen doch dem europäischen Bild des Wilden entsprechen. So beklagten sich Aschanti-Frauen bei ihrem Fan Peter Altenberg, daß sie halbnackt durch die Gegend laufen mußten. Ein Wiener Anthropologe namens Szombathy mußte 1882 mit größtem Erstaunen zur Kenntnis nehmen, daß sich die Frauen der in Wien gastierenden Samojeden-Truppe weigerten, für die Zwecke der Wissenschaft ihre Beinkleider abzulegen.
Rassen vermessen "Die Anthropologischen Gesellschaften schätzten die ,Völkerschauen' als Gelegenheit, ohne großen finanziellen Aufwand Angehörige anderer ,Rassen' abzumessen und damit die wissenschaftliche Rassentheorie auszufeilen", berichtet die Ethnologin Claudia Wulz von "Alltag und Geschichte". So trugen die ethnografischen Schaustellungen zur Entwicklung der pseudowissenschaftlichen Rassenkunde bei, die sich in der Zeit des Nationalsozialismus verheerend auswirkte und bis vor wenigen Jahren - freilich in abgeschwächter Form - im berüchtigten "Rassensaal" des Wiener Naturhistorischen Museums gepflegt wurde.
Der Zoo am Schüttel, Venedig in Wien, die Rotunde und all die anderen Örtlichkeiten, an denen ethnografische Schaustellungen stattfanden, sind längst verschwunden. Heute ist der Wurstelprater als solcher eine große ethnographische Schau. Denn zwischen Geisterbahnen und Schießbuden bewegen sich Menschen, die dem braven Bürger von heute oder dem Touristen denselben Kitzel der Authentizität vermitteln wie einst die Singhalesen oder die Aschanti. Der Wurstelprater ist nicht Disneyland; die Alkoholiker, die dort an ihren Bierdosen nuckeln, sind echt und so manchem schnauzbärtigen Tätowierten, der sich mit einem mechanischen Gegner im Armdrücken mißt, traut man durchaus mehrere Jahre Gefängnis wegen Totschlags zu. Ein Besuch im Wurstelprater ist eine scheinbar gefährliche Expedition in eine fremde Welt - und doch passiert dem Normalbürger dort ebenso wenig wie Peter Altenberg im Aschantidorf.
Bis 29. September Information: 0676 5618021