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Küssen verboten

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Indien zählt mit der gigantischen Jahresproduktion von rund 800 Filmen zu den größten Filmländern der Welt. In der Relation zu Indiens Einwohnerzahl - rund 800 Millionen Menschen ist das jährliche Filmschaffen allerdings eher spärlich. Warum man in Europa so wenig von den indischen Produktionen sieht, ist darauf zurückzuführen, daß von den 800 Filmen 750 Produktionen maßgeschneiderte, überlange Melodramen nach typisch indischem Geschmack sind.

Gaston Roberge, gebürtiger Kanadier, Filmtheoretiker und Vortragender an zahlreichen indischen Universitäten, kümmert sich seit 1970 intensiv um die Entwicklung des indischen Films. Roberge über den typischen indischen Film: „Das indische Filmmelodram besteht aus einer sehr einfachen Handlung, meist eine Liebesgeschichte. Die Geschichte, Logik und Dramaturgie sind aber mehr oder weniger egal. Viel wichtiger ist es dem indischen Kinopublikum, in jedem dieser Melodramen zumindest fünf Gesangseinlagen gibt, in denen sechs bis sieben Mal die Kulisse und der Hintergrund sowie die Kleidung gewechselt wird.“ Den Grund für die Vorliebe der Inder für kitschige Schmachtfilme sieht Roberge im „indian-way-of-life“: „Die Inder leben nach der Devise ,Genieße das Leben1“, meint Roberge. „Wenn man in Indien aus dem Kino kommt und einen Bekannten auf der Straße trifft, wird dieser nicht fragen, ob der Film gefallen hat, sondern ob man den Film genossen hat.“

Witziges Detail am Rande ist, daß sich die Schauspieler in einem indischen Melodram nie küssen. „Das ist ein Überbleibsel aus der britischen Kolonialzeit, in der öffentliches Küssen, ob auf der Straße oder in einem Film völlig verpönt war“, erklärt Roberge. Hollywood-Filme — wo ja manchmal ganz heftig geküßt wird - erfreuen sich deshalb vor allem bei der Stadtjugend großer Beliebtheit. Die Dominanz in den indischen Kinos liegt im Gegensatz zu Europa, wo mit Ausnahme Frankreichs rund 90 Prozent der Kinofilme aus Hollywood stammen, bei heimischen Produktionen. „Das liegt sicherlich daran, daß es in Indien 14 verschiedene Sprachen gibt und das Bildungsniveau - soziale Rückständigkeit, hoher Prozentsatz von Analphabeten — sehr niedrig ist. Kein Hollywood-Studio will es sich leisten, einen Film mit 14 verschiedenen Untertiteln zu versehen.“, erklärt Gaston Roberge.

Die Vielsprachigkeit ist auch eine weitere Ursache, daß der indische Film kaum über die Grenzen des Landes hinauskommt. Indische Qualitätsproduktionen - nicht mehr als 25 Filme jährlich —, kämpfen ähnlich wie in Europa mit schmalen Produktionsbudgets und schlechter Publikumsakzeptanz.

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