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Nachruf auf den Bezwungenen

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Zwei Menschen mit Gasmasken — schreiben die „Deutschen Kommentare“ — haben einige Augenblicke auf dem Mount Everest gestanden, und in der Menschheit jubelt es, daß der höchste Gipfel der Erde bezwungen ist. In die Gasmasken mündeten die Schläuche eines neuen Sauerstoffgerätes, mit dem man nach Wahl reinen Sauerstoff oder auch nur ein Gemisch aus Sauerstoff und unserer ganz gewöhnlichen Luft einatmen kann. Eine kleine Zutat frischer Bergluft, die die beiden Gipfelsteiger sich durch das Drehen eines Hebels verschaffen konnten. Mit dem neuen Sauerstoffgerät ist im Zeitalter des Perfektionismus bestätigt worden, daß für die Technik jede Rechnung aufgeht, wenn nur der Ansatz richtig ist. Bei den vielen Vorgängern der Himalaja-Stürmer der letzten dreißig Jahre hatte nur der Ansatz noch nicht ganz gestimmt. Nun soll das dem Lobe keinen Abbruch tun, das die Kunst der Bergsteiger verdient, denn wenigstens vor Höchstleistungen hat eine rekordwütige Zeit ja noch so etwas wie Ehrfurcht. Wovor hat sie das aber sonst noch? Was ist uns die Natur noch außer eben „Physik“? Wie aus uralten Zeiten klingt Schillers bewegte Klage:

„Wo jetzt nur, wie unsere Weisen sagen, seelenlos ein Feuerball sich dreht,

Lenkte damals seinen goldenen Wagen Helios in stiller Majestät.“

Für Hunderte von Millionen Indern Ist der Himalaja ein heiliger Berg und sie sind deswegen eher weiser als wir. Vom Himalaja sprechen ihre heiligen Schriften wie die Bibel vom Sinai. Der Anblick des Himalaja ersetze,so heißt es etwa, manche Stunden der Meditation. Den höchsten Grad erreicht die Ehrfurcht, wenn sie mit. dem Schaudern verbunden ist. Dieser Triumph des Menschen über den höchsten Gipfel der Erde aber hat eine Majestät gestürzt, von deren Kräften unserer Schulweisheit nichts mehr träumt. So wagen wir gegen den einstimmigen Chor des Jubels zu bedauern, daß der Himalaja bis zu seiner höchsten Spitze erstiegen wurde. Die Welt ist dadurch nicht reicher geworden und die Menschheit wahrscheinlich ärmer. Es wird berichtet, daß die Veröffentlichung der Nachricht bis zum Vorabend der Krönung der Königin Elisabeth zurückgehalten wurde. “Ein neuer Stein in ihrer Krone! Hier spinnt sich der Gedanke weiter. Eine englische Königskrönung ist im Bereich unserer säkularisierten Welt der letzte sakrale Restbestand, der weltliche Macht mit dem Göttlichen verbindet. Wie bei den römischen Kaisern und den deutschen Königen des Mittelalters liegt die Bedeutung nicht in dem Aufsetzen der Krone als dem äußeren Höhepunkt, sondern in der Salbung mit dem geweihten Oel. In der „Karnevals-Stimmung“ der Londoner Straßen — der Ausdruck stammt von der „Times“ —> hat sich doch auf eine anderen Völkern kaum noch zugängliche Weise das Gefühl für die Majestät eines Priester-Königtums erhalten. Es hätte des Opfers des Himalaja nicht bedurft.

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