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Vor dem Palastbezirk

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SENRYU. Japanische Lebensweisheit, Heiterkeit und Besinnlichkeit im Gedicht, aus dem Japanischen übersetzt von Gerolf C o u d e n- hove-Kalergi, mit 32 Zeichnungen von Katsushika Hokusai. Verlag Die Waage, Zürich, 1966. S 116.—.

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SENRYU. Japanische Lebensweisheit, Heiterkeit und Besinnlichkeit im Gedicht, aus dem Japanischen übersetzt von Gerolf C o u d e n- hove-Kalergi, mit 32 Zeichnungen von Katsushika Hokusai. Verlag Die Waage, Zürich, 1966. S 116.—.

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Was kann spannender sein als nachzusehen, wieviel Bekanntes und wieviel Fremdes im Geist eines fernen Volks vor sich geht? Der japanische Ritterstand hat mit christlicher Ritterschaft gar viel Gemeinsames — und doch ist der Unter schied niemals zu übersehen. Viel fremder ist für uns die Dichtung des japanischen Hofadels; so wie dieser unkriegerische Stand kaiserlicher Blutsverwandter weder dem Hochadel noch dem geistlichen Stand des Abendlandes ähnelt, so hat auch die höhere japanische Dichtkunst kein europäisches Gegenstück. Wir müssen dankbar sein, daß der gegenwärtige Autor uns schon mit den Kurzgedichten, den Haiku, bekannt gemacht hat.

Nun haben diese patrizischen Verse Vettern bürigertichen Standes. In der gleichen Form wie die Haiku verfaßt, werden sie nach dem Schriftsteillemamen des ersten Sammlers Senryu genannt und atmen noch immer einen japanischen, aber doch einen anderen Geist. Ihre Heimat ist weder im Palastbezirk des Kaiserhofes noch im Klostergarten des Tempels noch auf der Ritterburg des Landadels, sondern in der betriebsamen Stadt des ehrsamen Bürgers. Die Gesellschaftsordnung wird fraglos hingenommen; aber die ritterlichen Ideale überläßt man neidlos denen, die es angeht, und wie der kleine Mann über den buddhistischen Mönch denkt, das zeigt das Schicksal des Wortes „Bonze“; so nennt heute der deutschsprachige Untertan seine Obrigkeit,

den Politiker, und zwar gerade auch den gewerkschaftlichen... Nein, vornehm geht es in den volkstümlichen Stadtvierteln nicht zu, auch in der guten Stube des wohlbekannten Handelsmanns nicht, und noch weniger im Freudenhaus. Grobheit gibt es natürlich erst recht nicht, wir sind ja in Japan, nicht unter blauäugigen Teufeln...

Das Interessanteste nun an der köstlichen Auswahl, die hier aus der Überfülle des Materials geboten wird, das ist die Tatsache, daß wir bis zur Jetztzeit mitgehen. Freilich, vieles hat die Geschichte in Japan verändert, aber ... greifen wir diesbezüglich zu einer Frucht der höfischen Kultur, dem berühmten Preisgedicht, das der Kaiser im Jahr nach der Kapitulation über das Thema „Winterlandschaft“ schrieb:

„Frostig weht der Sturm, und die Kiefer unterm Schnee ungebrochen liegt.“

Kein Zensor der Okkupation konnte ein Landschaftsbild beanstanden ...

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