Herbe Silvestergeschichte

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Schreiben als Zauber, der töten kann. In Peter Stamms Roman "Agnes" rüttelt ein Liebespaar am Baum der Erkenntnis.

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Schreiben als Zauber, der töten kann. In Peter Stamms Roman "Agnes" rüttelt ein Liebespaar am Baum der Erkenntnis.

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Agnes ist tot. Eine Geschichte hat sie getötet." So beginnt eine Liebesbeichte in Peter Stamms Roman "Agnes". Die Rede ist von zwei Geschichten. Einmal die Handlung, dazu eine Fabel, die in die laufende Handlung erst hineingeschrieben wird. Zusammen eine spannende Unendliche Geschichte, bei der die Akteure sich ihre eigene Geschichte schreiben.

Die Handlungsgeschichte: Ein Schweizer Journalist verbringt ein Gastjahr in den USA. Bei seinen Recherchen über Luxuseisenbahnwagen trifft der Ältere die junge Physikstudentin Agnes. Es folgen die üblichen Stadien der Liebe, Annäherung, Sich finden und entfernen, Rausch und Ernüchterung, Arbeitswut und Lähmung, dazu in feinen Dosen Bindungsangst und Eifersucht. Alles ist herkömmlich, noch keineswegs fatal, doch bereits soweit eine sehr schön geschriebene Geschichte.

Dann aber erliegen die Beiden einer poetischen Verführung: "Schreib eine Geschichte über mich, damit ich weiß, was du von mir hältst" liegt ihm Agnes versucherisch in den Ohren. So schreiben sie ihre Geschichte auf, erst Protokoll, dann Fiktion der Zukunft. Bei dieser anderen Geschichte sind sie Autoren, Regisseure und Spieler zugleich: Sie schreiben sich das Stück, in dem sie selber spielen. Zu spät erkennen sie, wie Schreiben für sie ein Rütteln am Baum der Erkenntnis ist, ein Seinwollen wie Gott, ein Sündenfall. Hohlräume in den Lebensfundamenten werden hervorgeschrieben, werden durch das schreibende Erkennen gefährlich für die Statik. Schreiben als steinzeitlicher Zauber, der töten kann durch die Bilder an der Wand. Als ob, wie damals durch die Erfindung der Schrift, ein Klima sich geändert hätte, kühlt sich die Liebe ab. Agnes erkältet sich nun auch körperlich. Auf der Suche nach einer "wahren" Schlußfigur für die Geschichte schreibt der Schreiber, zunächst nur als Variante, den Erfrierungstod von Agnes herbei. Magisch hineingezogen erliegt die latent Instabile der Suggestivkraft dieses Textes: In der Silvesternacht alleingelassen, fährt sie weit hinaus an den vorgeschriebenen Ort, wo sie im Sommer glücklich waren, und legt sich, wie ein Indio-Opfer, in den Schnee zum Sterben: Handlung und Fabel finden fatal zusammen, waren schon auf der ersten Seite aufeinander angelegt, wie man jetzt erkennt: "Es war kalt, als wir uns kennenlernten." Das Ende trifft sich mit dem Anfang: Eine herbe Silvestergeschichte.

Peter Stamm, geboren 1963, ist Schweizer Publizist, Hörspielautor, Redakteur. In diesem ersten Roman (eigentlich eine Erzählung) ist die gute Tradition von "Montauk" in vielen Bezügen erkennbar: einmal die klare, kunstvoll-einfache, vorbildliche Sprache, und die knappe, fast aussparende Behandlung der Liebesdinge. Aber auch einzelne Motive: das Gastsein eines Schweizers in den USA, die Liebe vom Älteren zur Jüngeren über eine Generation hinweg, vor allem aber das Sujet "Die eigene Beziehung als literarisches Material", an dem die Liebe Max Frisch/Ingeborg Bachmann zugrunde gegangen war, wie es in "Montauk" zu lesen ist. "Agnes" von Peter Stamm ist eine Hommage an Max Frisch.

Agnes Roman von Peter Stamm. Arche Verlag, Zürich 1998, 144 S., geb., öS 248.

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